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Das Baltikum – Kirchenverfolgung am Rande der EU

Autor: Roman Lvov

Vorwort der Redaktion

„Die Frage einer ordnungsgemäß durchgeführten kanonischen kirchlichen Autokephalie ist so kompliziert, dass deren Umsetzung in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Kirche in den gegenwärtigen verworrenen und unübersichtlichen Zeiten kaum möglich ist; eine Autokephalie jedoch, die ad hoc, durch politischen Druck ohne Beachtung der einschlägigen Kanones durchgeführt wird, ist keine Autokephalie, sondern lediglich eine Erscheinungsform des Schismas [...]. Der Herr allein weiß, wohin dieser Weg letzten Endes führen wird, im Moment aber führt er uns zur Freude der Feinde der Orthodoxie in ein erbärmliches, beschämendes Durcheinander in der orthodoxen Welt.“[1]

Hl. Johannes (Pommer), Erzbischof von Riga und ganz Lettland
Hl. Johannes (Pommer), Erzbischof von Riga und ganz Lettland

Der heilige Neumärtyrer Johannes (Pommer), Erzbischof von Riga und ganz Lettland, schrieb diese Zeilen im Jahr 1922, kurz nachdem er als Bischof von Riga eingesetzt worden war. Im Jahr 1934 wurde er brutal ermordet – an eine aus den Angeln gehobene Tür gefesselt, seine Füße in Brand gesetzt, angeschossen, mit Petroleum übergossen und mitsamt seinem Haus bei lebendigem Leib verbrannt. Bis heute sind die Umstände seines Todes nicht restlos geklärt, insbesondere sind die Auftraggeber des offenkundig politischen Mordes nicht identifiziert worden, obwohl die Mörder nach Einschätzung der Ermittler namentlich bekannt waren.[2] Auch die einst in der sowjetischen Geschichtsschreibung weit verbreitete These, der Mord sei von den Anhängern der lettischen Autokephalie angeordnet worden, deren nicht-kanonische Proklamation der heilige Johannes ablehnte, wird von heutigen Historikern nicht ausgeschlossen. Ferner erscheint eine „sowjetische Handschrift“ in diesem Fall nicht minder plausibel.

Vor dem Hintergrund der andauernden Verfolgung der kanonischen Ukrainischen Orthodoxen Kirche gewinnt die politische Ermordung des Heiligen Johannes von Riga, eines treuen Verfechters der kanonischen Ordnung der Kirche sowie allgemein der Heiligen Neumärtyrer, wieder an Aktualität. Der „politische Druck“ auf die Kirche Christi seitens der zeitgenössischen ukrainischen Behörden hat nicht nur zu einem „beschämenden Durcheinander in der orthodoxen Welt zur Freude der Feinde der Orthodoxie“ beigetragen, sondern er hat neulich auch seine unverhohlen gottfeindliche Natur durch den blasphemischen Umgang mit den Reliquien der ehrwürdigen Väter im Kiewer Höhlenkloster offenbart; diese Reliquien werden nun von einer staatlichen Kommission – welcher Anatomen, Biologen und sogar ein Tierarzt angehören – „geprüft“.

Entmutigend mag es sein mitansehen zu müssen, wie sich die heutigen ukrainischen Verächter ihrer eigenen sowjetischen Vergangenheit als geistige Nachfolger ihrer gottesfeindlichen Vorgänger erweisen. Es sei daran erinnert, dass ein solcher „Druck“ auf die Kirche Christi in seinem Wesen „Feindschaft gegen Gott“ ist. Dies sollte man sich ins Gedächtnis rufen, wenn man über den wachsenden, in demokratisch-liberale Gewänder gekleideten Druck auf die Kirche Christi liest. Die Diskriminierung von Christen floriert, während die Rechtsnormen der Europäischen Union seit Jahren und Jahrzehnten von ihr selbst ignoriert werden. Nun soll am 9. April dieses Jahres in Estland ein Gesetz verabschiedet werden (siehe unten), das denjenigen, die in dem Land nicht wahlberechtigt sind, das Recht auf das Priesteramt verwehrt. Ich frage mich, wie die Katholische Kirche eine solche Rechenschaftspflicht und die Umsetzung solcher Gesetze in Deutschland kommentieren würde: hierzulande liegt der Anteil der ausländischen Geistlichen in einigen katholischen Diözesen bei 30 Prozent und mehr.[3]

So traurig es auch sein mag, aber lange bekannt ist, dass dort, wo „die Kirche vom Staat getrennt ist“, der Staat in der Praxis häufig nicht sehr von der Kirche getrennt ist. Vor diesem Hintergrund möchten wir mit diesem Artikel die Aufmerksamkeit unserer Leser auf die alarmierende Entwicklung der kirchlichen Situation in den baltischen Ländern lenken.

Andrej Fastovskiy

Lettland

In der Republik Lettland hat sich eine schwierige und historisch beispiellose Konstellation ergeben. Die Lettische Orthodoxe Kirche (im Folgenden: LOK) des Moskauer Patriarchats ist auf dem Territorium des Landes seit 1992 im Status der Selbstverwaltung auf der Grundlage des Tomos Seiner Heiligkeit Patriarch Alexij II. tätig. Dieser Tomos bestätigte die Unabhängigkeit der LOK in „kirchlich-administrativen, kirchlich-wirtschaftlichen, kirchlich-pädagogischen und kirchlich-zivilen Angelegenheiten, wobei sie in der kanonischen Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats verbleibt“.[4]

Kathedralkirche zu Ehren der Geburt Christi in Riga, Aufnahme aus den Jahren 1900-1910.
Kathedralkirche zu Ehren der Geburt Christi in Riga, Aufnahme aus den Jahren 1900-1910.

Am 8. September 2022 verabschiedete die Saeima (das lettische Parlament) Änderungen zum Gesetz über die lettisch-orthodoxe Kirche und erklärte die lettisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats für autokephal.[5] Darüber hinaus sieht die neue Fassung des Gesetzes eine Rechenschaftspflicht der Kirche gegenüber dem Staat in Personalangelegenheiten vor, d. h. die LOK ist verpflichtet, die Kanzlei des Präsidenten schriftlich über alle personellen Veränderungen im Episkopat zu informieren. Die Kanzlei wiederum berichtet auf der Grundlage der von der Kirche übermittelten Informationen und eines Antrags der Person, die auf die bischöfliche Kathedra berufen oder von ihr abberufen wird, über den Personalwechsel in der offiziellen staatlichen Informationsschrift "Latvijas Vestnesis".[6]

Diese Änderungen widersprechen dem Grundgesetz der Republik Lettland, in dem es heißt: „Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Die Kirche ist vom Staat getrennt“.[7] Die Einführung einer solchen Rechenschaftspflicht der Kirche gegenüber dem Staat kann nur als Versuch angesehen werden, die sowjetische Praxis der Verwaltung der Personalpolitik der Kirche durch die Einrichtung von Bevollmächtigten für religiöse Angelegenheiten wiederherzustellen, was die derzeitigen lettischen Behörden auf eine Stufe mit den sowjetischen Verfolgern der Kirche stellt. Diese Maßnahme ist eine logische Weiterführung der von der Saeima am 6. Juni 2019 verabschiedeten Änderungen des Gesetzes zur LOK, in denen es heißt: „Nur Priester der Kirche und Bürger Lettlands, die seit mindestens zehn Jahren ihren ständigen Wohnsitz in Lettland haben, können Oberhaupt der Kirche, Metropoliten und Bischöfe sein, sowie Kandidaten für diese Positionen.“[8]

Das von der Saeimas bestätigte Dokument verpflichtete die LOK, ihr Statut bis zum 31. Oktober 2022 an die neuen Gesetzesnormen anzupassen.[9] Als Reaktion auf diese Vorgabe, bei der es zu einer Reihe von Verfahrensverstößen kam, fand am 20. Oktober 2022 in der Allerheiligenkirche in Riga ein Landeskonzil der LOK[10] statt, auf dem eine neue Fassung des Statuts der LOK verabschiedet wurde, mit der die meisten Delegierten nicht vertraut gemacht worden waren. Das Statut wurde beim lettischen Justizministerium registriert.

Das Landeskonzil der LOK im Jahr 2022
Das Landeskonzil der LOK im Jahr 2022

Die an der Satzung vorgenommenen Änderungen gehen weit über das hinaus, was formell ausreicht, um den rechtlichen Anforderungen der Regierung zu genügen. So erklärt der erste Absatz des neuen Statuts die LOK für autokephal.[11] Das Statut begründet de facto ein Bischofskonzil der LOK.[12] Es schreibt dem neu gewählten Primas der LOK vor, die Oberhäupter aller autokephalen Ortskirchen über seine Wahl zu informieren und sie in den Diptychen namentlich zu kommemorieren.[13] Separat genannt wird das ausschließliche Recht des Primas der LOK, Beziehungen zu anderen autokephalen Kirchen, anderen religiösen Institutionen, sonstigen Organisationen und ausländischen Staaten zu unterhalten.[14] Das neue Statut gibt der LOK ferner die Möglichkeit, selbständig Bischöfe zu wählen und zu weihen,[15] sowie das Recht des Primas, Bischöfe in den Rang eines Erzbischofs oder Metropoliten zu erheben.[16] Außerdem wurde der Klerus der lettischen Kirche im Stillen unter Druck gesetzt, die liturgische Kommemoration des Patriarchen von Moskau und ganz Russland einzustellen.

Die geschilderten Tatsachen stehen in direktem Widerspruch zum 15. Kanon des Konzils Primasecunda, zu allen drei Bestimmungen des Tomos des Patriarchen Alexij II. und zu den Absätzen 1, 3, 4, 5, 7, 9, 11, 13 und 14 des zwölften Kapitels des Statuts der ROK.

Gleichzeitig sandte die LOK an Seine Heiligkeit Patriarch Kirill „die innige Bitte um eine Lösung der unüberwindbaren Schwierigkeiten, die sich ergeben haben“. Diese Forderung wurde vom Heiligen Synod der ROK geprüft[17], der auf das Verfahren für die Gewährung von Autokephalie, Autonomie oder Selbstverwaltung für eigenständige Teile der ROK hinwies, wie es das Statut der Russischen Orthodoxen Kirche vorsieht, und die Behandlung dieser Frage auf die Tagesordnung des Bischofskonzils setzte. Die Einberufung eines solchen Bischofskonzils wurde bereits auf der vorangegangenen Tagung des Synods auf eine Zeit verschoben, in der die internationale Krise überwunden sein würde.

Metropolit Alexander (Kudrjaschow) von Riga und ganz Lettland hat in Ausübung seiner neu erworbenen Befugnisse gemäß dem Statut Bischof Alexander (Matrjonin) von Daugavpils am 23. Juli 2023 ohne den Segen des Patriarchen in den Rang eines Erzbischofs erhoben.[18] Es ist bemerkenswert, dass zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Änderungen des LOK-Gesetzes die LOK selbst über keinen einzigen Erzbischof verfügte.  Die lettische Saeima hatte jedoch zielgerichtet im gesamten Gesetzestext die Worte „Bischöfe“ durch die Formulierung „Erzbischöfe und Bischöfe“ ersetzt mit entsprechender grammatischer Änderung.[19] Eine derartige Aufmerksamkeit für Nuancen seitens der weltlichen Behörden und eine derart rasche Umsetzung der neuen „Rechte“ durch den Metropoliten von Riga lassen auf eine mögliche, noch vor der Verabschiedung der Gesetzesänderungen getroffene, Absprache zwischen den lettischen Behörden und dem Klerus hinter den Kulissen schließen.

In Fortsetzung dieses Vorgehens weihte Metropolit Alexander am 13. August 2023 entgegen dem Statut der Russischen Orthodoxen Kirche und dem Tomos von Patriarch Alexij II. ohne vorherige Absprache mit dem Heiligen Synod der ROK Archimandrit Johannes (Lipshansa) zum Bischof von Valmiera.[20] Dieser Schritt führte dazu, dass der Heilige Synod der ROK bereits am 24. August das Vorgehen von Metropolit Alexander verurteilte und darauf hinwies, dass die LOK verpflichtet sei, das Statut der ROK zu wahren, bis ihr Antrag auf Änderung des Kirchenstatus vom Bischofskonzil der ROK geprüft worden sei. Der Heilige Synod setzte die Frage nach der Möglichkeit der Anerkennung der Weihe von Archimandrit Johannes (Lipshansa) und die Frage nach der kanonischen Verantwortung der Teilnehmer an dieser Weihe auf die Tagesordnung des nächsten Bischofskonzils.[21] Die Kirchenleitung in Riga hat auf die Ermahnungen des Synods nicht reagiert.

Die Situation der LOK wird durch die anhaltende und unverhohlene Kontrolle seitens des Staates, die Androhungen einer Aberkennung des Status einer juristischen Person für die Kirche insgesamt und die einzelnen Kirchengemeinden sowie einer Beschneidung der Eigentumsrechte noch verschärft. Diese Situation zwingt die kirchlichen Behörden dazu, nach Kompromissen zu suchen. Doch nicht immer sind Zweckmäßigkeit und kirchenpolitischer Nutzen solch bedeutender Zugeständnisse an den Staat ersichtlich.

Litauen

In der Republik Litauen ist die Situation etwas anders. Die Diözese Vilna der Russisch-Orthodoxen Kirche hat als gewönliche, ordentliche Diözese der ROK keinen besonderen rechtlichen Status[22], obwohl sie eine gewisse faktische Unabhängigkeit besitzt. Am 27. Mai 2022 hörte der Heilige Synod der Russisch-Orthodoxen Kirche den Bericht des Metropoliten Innokentij von Vilna und Litauen mit der Bitte an, den Status der Vilnaer Diözese zu ändern.[23] Auf einer Sitzung am 16. März 2023 setzte der Synod nach Prüfung der Schlussfolgerungen der Kommission zur Untersuchung des Status der Diözese die Frage der Änderung ihres Status auf die Tagesordnung des (künftigen – Red.) Bischofskonzils und ließ den derzeitigen Status unverändert.[24] (Das Bischofskonzil der Gesamtkirche ist die oberste Instanz und steht über dem Synod und dem Patriarchen. – Red.)

Obwohl es bislang zu keiner offensichtlichen Verfolgung durch die litauischen Behörden kam, sah sich die Diözese Vilna[25] mit der Bildung einer parallelen Struktur des Patriarchats von Konstantinopel im Lande konfrontiert, die vom Staat unterstützt wurde.

Seine Heiligkeit Patriarch Kirill hat mit seiner Entscheidung vom 30. Juli 2022 die Entscheidung des Metropoliten Innokentij bestätigt, fünf Priester des Amtes in der Diözese Vilna zu entheben. Der Grund für die Disziplinarmaßnahme war die öffentliche Tätigkeit der besagten Kleriker, die darauf abzielte, den Klerus der Diözese Vilna zu diskreditieren, ihrem amtierenden Bischof den Gehorsam zu verweigern und zu versuchen, die Jurisdiktion zu wechseln, ohne die kanonische Ordnung eines solchen Übergangs zu beachten, während sie gleichzeitig versuchten, eine parallele Struktur des Patriarchats von Konstantinopel in Litauen zu schaffen. Die genannten Kleriker erkannten das gegen sie erteilte Urteil nicht an[26] und appellierten an den Patriarchen Bartholomäus von Konstantinopel. Mit Entscheidung vom 17. Februar 2023 gab dieser den Anträgen statt, setzte die genannten Priester wieder in ihr Amt ein und nahm sie in den Klerus der orthodoxen Kirche von Konstantinopel auf.[27]

Premierministerin Ingrida Šimonīte und Patriarch Bartholomäus
Premierministerin Ingrida Šimonīte und Patriarch Bartholomäus

Zuvor, am 19. September 2022, besuchte eine offizielle Delegation der Republik Litauen unter Leitung des stellvertretenden Außenministers Mantas Adomenas den Phanar.[28] Ende März 2023 stattete Patriarch Bartholomäus auf Einladung von Premierministerin Ingrida Šimonīte der Republik Litauen einen dreitägigen offiziellen Besuch ab. Dies führte zur Gründung des litauischen Exarchats der Kirche von Konstantinopel, das aktiv seine Tätigkeit aufnahm. Aus kirchenrechtlicher Sicht bedeutet das ein Eindringen des Ökumenischen Patriarchen in das kanonische Gebiet der Russischen Orthodoxen Kirche. Bemerkenswert ist, dass Patriarch Bartholomäus während seines Aufenthalts in Litauen von Metropolit Innokentij eingeladen wurde[29], litauische Heiligtümer zu verehren, diesen Aufruf jedoch gänzlich ignorierte und sich auf Treffen mit weltlichen Politikern konzentrierte.

Das Personal des Exarchats setzte sich aus den bereits erwähnten litauischen Geistlichen zusammen, die in der Russischen Orthodoxen Kirche ihres Amtes enthoben worden waren. Als Exarch wurde ein Kleriker der Estnischen Apostolischen Orthodoxen Kirche ernannt, nämlich Priestermönch Iustin (Kiviloo)[30]. Es ist bemerkenswert, dass der Mitarbeiterstab des Exarchats in der Folgezeit vor allem durch des Amtes enthobene und dissidente Geistliche der Russischen Orthodoxen Kirche aufgefüllt wurde. So wurde beispielsweise Protodiakon Andrei Kurajew[31] in den Klerus des Exarchats aufgenommen. Dieser Ansatz in der Personalpolitik schließt die Möglichkeit einer normalen Interaktion zwischen den beiden kirchlichen Strukturen praktisch aus, was zu Spannungen in der Gesellschaft und darüber hinaus zu Beschwerden des Exarchats über die „Konkurrenz“ durch die Diözese Vilna führt.[32]

Der Klerus des Exarchats: In der ROK laisierte Priester und Priestermönch Iustin (Kiviloo)
Der Klerus des Exarchats: In der ROK laisierte Priester und Priestermönch Iustin (Kiviloo)

Trotz der relativ ruhigen Atmosphäre in der Diözese Vilna selbst ist die Gründung des litauischen Exarchats der Kirche von Konstantinopel ein weiterer Präzedenzfall für die Einmischung des Phanars in das kanonische Gebiet der Russischen Orthodoxen Kirche aus rein politischen Gründen.

Estland

Besonders dynamisch ist die kirchliche Situation in der Republik Estland. Die autonome Estnische Orthodoxe Kirche (EOK) wurde auf der Grundlage des Dekrets Nr. 1780 des Patriarchen Tichon vom 15. und 28. Juni 1920 gegründet und 1923 der orthodoxen Kirche von Konstantinopel unterstellt, was den Protest des Heiligen Tichon hervorrief. Patriarch Meletius IV. argumentierte in seinem Tomos über die Aufnahme der EOK unter sein Omophorion als Metropolie von Estland, dass es für die estnische Orthodoxie unter den gegebenen historischen Umständen unmöglich sei, kirchliche Beziehungen zum Moskauer Patriarchat zu unterhalten.[33] Mit dem Anschluss Estlands an die Sowjetunion im Jahr 1940 kehrte die estnische Kirche faktisch in die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats zurück. Obgleich unter der deutschen Besatzung durch den damaligen estnischen Metropoliten Alexander (Paulus) ein Schisma entstanden war, wurde die EOK 1944 endgültig mit der Russisch-Orthodoxen Kirche wiedervereinigt, was durch das Schreiben Nr. 267 des Ökumenischen Patriarchen Demetrius I. vom 3. Mai 1978 bestätigt wurde.[34] Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Gründung der unabhängigen Republik Estland erhielt die EOK wieder einen autonomen Status innerhalb des Moskauer Patriarchats. Im Jahr 1996 versuchte der Ökumenische Patriarch Bartholomäus jedoch, die EOK wieder unter sein Omophorion zu bringen, was zu einer Kirchenspaltung und heftigen Protesten seitens des Moskauer Patriarchats führte.[35] Infolgedessen gibt es in Estland bis heute zwei parallele Kirchenstrukturen: die Estnische Orthodoxe Kirche, selbstverwaltet und kanonisch mit dem Moskauer Patriarchat verbunden, und die Estnische Autonome Orthodoxe Kirche des Patriarchats von Konstantinopel.

Die Kathedralkirche zu Ehren des hl. Großfürsten Alexander von der Neva in Tallin
Die Kathedralkirche zu Ehren des hl. Großfürsten Alexander von der Neva in Tallinn

Die Lage der mit dem Moskauer Patriarchat verbundenen EOK hat sich im vergangenen Jahr deutlich verschlechtert. Die estnischen Behörden haben konsequent Druck auf die Kirche ausgeübt, um sie zu zwingen, die kanonischen Beziehungen zum Moskauer Patriarchat zu kappen. So wurde dem Metropoliten Eugen (Reshetnikov), dem Primas der EOK, Anfang 2024 die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung verweigert, so dass er gezwungen war, Estland und damit auch seine Kathedra zu verlassen. Die Behörden begründeten diesen Schritt mit der angeblichen Bedrohung der nationalen Sicherheit durch den Metropoliten.[36] Daraufhin schlug der estnische Innenminister Lauri Läänemets vor, die Russisch-Orthodoxe Kirche als „terroristische Organisation“ einzustufen.[37] Es folgten eine Reihe von Konsultationen zwischen Vertretern des estnischen Innenministeriums und der EOK, die zu keinen nennenswerten Ergebnissen führten.

      Eugen (Reshetnikov), Metropolit von Tallinn und ganz Estland
Eugen (Reshetnikov), Metropolit von Tallinn und ganz Estland

Die Behörden missachten gänzlich die Tatsache, dass selbstverwaltete Kirchen dem Moskauer Patriarchat weder administrativ noch wirtschaftlich oder politisch untergeordnet sind. Kanonische Unterordnung bedeutet Rechenschaftspflicht in rein kirchlichen Angelegenheiten und nichts weiter. Die selbstverwalteten Kirchen haben das Recht, sich ihre eigene Meinung zu politischen Prozessen zu bilden, und diese Meinung braucht sich nicht mit den Ansichten des Moskauer Patriarchats zu decken. So schrieb beispielsweise der heilige Neumärtyrer Johannes (Pommer), der bis zu seinem Märtyrertod im Jahr 1934 an der Spitze der selbstverwalteten LOK stand, in einem Brief an Erzbischof Eleutherij (Bogojavlenskij):

„Patriarch Tichon und seine Verwaltung haben es für kanonisch möglich und praktisch zweckmäßig befunden, gemäß den Richtlinien von Kanon 17 des IV. Ökumenischen Konzils, Kanon 38 des VI. Ökumenischen Konzils und andere Kanones, jenen Teilen des Moskauer Patriarchats, die durch die neuen Staatsgrenzen von Moskau getrennt sind und sich im Gebiet neuer souveräner Staaten wiederfanden, ein gesetzliches Maß an Unabhängigkeit in kirchlich-administrativen, kirchlich-wirtschaftlichen, kirchlich-staatlichen und anderen Angelegenheiten zu gewähren. Ich habe von Patriarch Tichon und seiner Verwaltung den entsprechenden Akt als Oberhaupt der Kirche von Lettland erhalten, und ich muss bezeugen, dass dieser Akt, der die Würde des Moskauer Patriarchats in keiner Weise schmälert, für mich und die Kirche, die ich leite, von unsagbar großer und außerordentlich positiver Bedeutung war und immer noch ist. Angesichts des jüngsten „Aufrufs“ des Provisorischen Patriarchensynods [gemeint ist die sog. Loyalitätserklärung des Metropoliten Sergij Stragorodskij gegenüber der Sowjetmacht – Anm. d. Verf.] wurde die Zweckmäßigkeit eines solchen Aktes besonders deutlich. Durch diesen Akt sind ich und die Kirche, die ich leite, ein für allemal vor der Möglichkeit geschützt, dass die Bolschewiken den Druck, der auf die Kirchenverwaltung in Moskau ausgeübt wird, auf mich und meine Kirche ausdehnen.“[38]

Wie bereits erwähnt, haben die LOK und die EOK nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Republiken Lettland und Estland ihren Selbstverwaltungsstatus wiedererlangt, aber die Tatsache dieser Unabhängigkeit wird von den derzeitigen lokalen Behörden hartnäckig ignoriert.

Am 19. Februar 2025 verabschiedete das estnische Parlament (Riigikogu) in erster Lesung Änderungen zum Gesetz über Kirchen und Gemeinden, die darauf abzielen, estnischen religiösen Organisationen zu verbieten, sich ausländischen Organisationen zu unterstellen, die militärische Aggression unterstützen[39]; das Moskauer Patriarchat wird gerade als eine solche Organisation eingestuft. Die definitive Verabschiedung der Änderungen ist für den 9. April 2025 vorgesehen. Darüber hinaus wird Personen, die in Estland nicht wahlberechtigt sind, durch die Änderungen das Recht auf Durchführung gottesdienstlicher Handlungen entzogen. Alle rechtlichen Möglichkeiten der EOK, sich gegen die Angriffe des Staates zu wehren, sind ausgeschöpft.[40] Somit verheißt die endgültige Verabschiedung des besagten Gesetzes eine faktische Zerschlagung der EOK und des Stavropigialen Nonnenklosters Pjukhtitsa, wenn sie dem staatlichen Druck nicht durch kanonisch unzulässige Zugeständnisse nachgeben. Gleichzeitig machen die Behörden keinen Hehl aus den politischen Motiven des ausgeübten Drucks. Eine Anfrage des oppositionellen Riigikogu-Abgeordneten Vadim Belobortsev, ob es Verstöße gegen die geltende estnische Gesetzgebung und die Verbreitung von Militärpropaganda gegeben habe, ergab, dass keine derartigen Verstöße festgestellt worden seien.[41]

Leider haben die baltischen Staaten trotz ihres deklarierten Bekenntnisses zu demokratischen Grundsätzen, zu Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit eine regelrechte Verfolgung der orthodoxen Kirche eingeleitet. Die dortigen politischen Regime haben der Kirche Christi faktisch den Krieg erklärt, indem sie sie als Bedrohung für die nationale Sicherheit darstellen. Viele Gläubige stehen vor der Wahl zwischen der Loyalität zur Kirche, ihren Kanones und ihrer Tradition, oder dem politischen und materiellen Wohlstand.

Die Ausweisung von Geistlichen, die Bildung paralleler nicht-kanonischer Strukturen, die Drohung, Gemeinden und Kirchen den Rechtsstatus zu entziehen, die Kontrolle über das religiöse Leben der Kirche – all dies stellt die modernen baltischen Machthaber auf eine Stufe mit den Kirchenverfolgern der Vergangenheit, mit dem kommunistischen gottesfeindlichen oder dem heutigen ukrainischen Regime. Aber trotz aller Unruhen und aller Anstrengungen der Behörden, den Leib Christi zu zerreißen, hat das letzte Wort immer der Herr. 


[1] Geschichte in Briefen: aus dem Archiv des Heiligen Märtyrers Erzbischof Johannes (Pommera) von Riga. In 2 Bänden, Bd. 1, Twer 2015, S. 378.

[2] Vergleiche das Interview mit dem Historiker Sergei Mazur: https://www.freecity.lv/istorija-bez-kupjur/22691/.

[3] https://de.catholicnewsagency.com/article/460/auslandische-priester-in-deutschland-vom-reichtum-der-weltkirche. Insgesamt 11.702 Priester im Jahr 2023, davon 2.246 ausländische Staatsangehörige: 26,3%. (Katholische Kirche. Zahlen und Fakten. S. 82, Bonn: Juli 2024), hauptsächlich aus Indien, Uganda, Nigeria und Polen.

[4] Pravoslavie v Latvii. Istoričeskie očerki, Gavrilin A.V. (Hg.), Riga 2001, S. 187-188.

[5] Grozījumi Latvijas Pareizticīgās Baznīcas likumā. Riga: Latvijas Vestnesis, №2022/175А.1, Par. 2-3

[6] A.a.O., Par. 4.

[7] Verfassung der Republik Lettland//Verfassungsgericht der Republik Lettland: https://www.satv.tiesa.gov.lv/wp-content/uploads/2020/11/Конституция-Латвийской-Республики.pdf (abgerufen am: 26.02.2025), Par. 99.

[8] Grozījumi Latvijas Pareizticīgās Baznīcas likumā. Riga: Latvijas Vestnesis, №2019/115.1

[9] Grozījumi Latvijas Pareizticīgās Baznīcas likumā. Рига: Latvijas Vestnesis, №2022/175А.1, Par. 5.

[10] Offizielle Website der lettlischen Kirche: http://pravoslavie.lv/.

[11] Latvijas Pareizticigas Baznicas Statuti // firmas.lv, https://archive.org/details/2022_20250226 S 3. Par.1.

[12] A.a.O., S 3. Par. 4.

[13] A.a.O., S 5 Par. 16.

[14] A.a.O., S 5 Par. 17.

[15] A.a.O., S 6 Par. 26.

[16] A.a.O., S 5 Par. 17.

[17] Journal des Moskauer Patriarchats 4 (2023), S.13.

[19] Grozījumi Latvijas Pareizticīgās Baznīcas likumā. Riga: Latvijas Vestnesis, №2022/175А.1, Par. 1

[21] Journal des Moskauer Patriarchats 9 (2023) S. 21.

[22] https://www.patriarchia.ru/org/155 (abgerufen am 27.02.2025)

[23] Journal des Moskauer Patriarchats 7 (2022) S. 20.

[24] Journal des Moskauer Patriarchats 4 (2023) S. 13.

[34] Journal des Moskauer Patriarchats 4-5 (1996) S. 10.

[35] A.a.O., S. 6.

[38] Geschichte in Briefen: aus dem Archiv des Heiligen Märtyrers Erzbischof Johannes (Pommera) von Riga. In 2 Bänden, Bd. 1, Twer 2015, S. 360-363.

[40] Ebd.

[41] Ebd.

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