oder warum wir den heiligen Johannes (Maksimovich) nicht als Erzbischof von Westeuropa kommemorieren.
Buchbesprechung: Georgij Pavlovich (Hg.), "Man kann die Augen nicht von ihm lassen..." Der heilige Johannes von Shanghai in den Briefen von Petr Sergeevich Lopukhin an Erzpriester Georgij Grabbe, Moskau 2022.
Autor: Andrej Fastovskiy
Die orthodoxe St.-Tichon-Universität für Geisteswissenschaften überzeugt einmal mehr durch ihre wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit. So wurde im Jahr 2022 ein Buch veröffentlicht, das den wenig erforschten europäischen Lebensabschnitt (1951-1962) des großen gottgefälligen Liturgen des 20. Jahrhunderts, des Heiligen Johannes (Maksimovich), des Wundertäters von Shanghai und San Francisco, beleuchtet.
Die Besonderheit des Buches liegt darin, dass wir es hier nicht mit einer "trockenen" historischen Darstellung zu tun haben. Vor uns liegt ein Zeitzeugenbericht, denn veröffentlicht wurde die Privatkorrespondenz zwischen Petr Sergeevich Lopukhin und Erzpriester Georgij Grabbe, die erst unlängst an der Stanford University in Kalifornien (USA) entdeckt worden ist, wo sie verwahrt wird.
Wie Vater Georgij Grabbe, dessen Name den meisten kirchenhistorisch versierten Menschen nicht unbekannt ist, so hat auch der weniger bekannte Petr Lopukhin den größten Teil seines Lebens in den Dienst der Kirche gestellt und in ihrer Verwaltung gearbeitet. Ab 1935 wirkte er im Büro des Synods der Russisch-Orthodoxen Kirche in Sremski Karlovcy, war später Sekretär der Vorkonziliaren Kommission und dann des Zweiten All-Diaspora-Konzils von 1938 und schließlich von 1948-1961 Sekretär und Schatzmeister der westeuropäischen Diözese, gerade dann, als der Heilige Johannes (Maksimovich) dort amtierte.
Mit letzterem wohnte er im selben Haus im Kadettenkorps in Versailles und teilte dasselbe Essen, das er nach eigenem Bekunden manchmal selbst zubereitete, wenn sich die Köchin weigerte, nachts zu kochen, als der Heilige, erschöpft von den Strapazen des Tages, sein Zuhause erreichte. Vermutlich hat in den mehr als zehn Jahren, die der hl. Johannes in der westeuropäischen Diözese verbrachte, niemand so eng mit ihm Kontakt gepflegt wie Petr Sergeevich – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass man überhaupt von einer Annäherung sprechen darf, denn nicht umsonst bemerkte Lopukhin einst: "E[rzbischof] J[ohannes] ist sehr verschwiegen". (S. 117)
Doch bevor wir uns dem Inhalt des Buches zuwenden, wollen wir noch zwei Worte über die Edition selbst verlieren. Der Herausgeber der Briefe, Priester Georgij Pavlovich, bezeugt, dass "die Arbeit eines Historikers die Prüfung und Auswertung der übermittelten Informationen" einer privaten Korrespondenz voraussetzt, die ja die subjektiven Ansichten des Verfassers zum Ausdruck bringt, "welche manchmal sogar fehlerhaft sind" (S. 6). Er initiierte diese Arbeit auch, indem er die Briefe mit einem umfangreichen kritischen Apparat versah. Der Umfang der geleisteten Arbeit ist beachtlich. Der Herausgeber hat sich nicht nur die Mühe gemacht, die Identität buchstäblich jeder in den Briefen oft nur dem Vornamen nach erwähnten Person festzustellen, sondern er hat auch die Titel von Veröffentlichungen ermittelt, auf die sich die Verfasser der Briefe nur indirekt bezogen. Die folgende Passage mag von der Integrität der Arbeit zeugen: In einem seiner Briefe teilt Petr Sergeevich mit, dass er auf der Suche nach einem Verlag ist, der seinen Artikel mit 36.800 Zeichen veröffentlichen würde (S. 33). Vr. Georgij suchte nach dem 1951 veröffentlichten Artikel und zählte nur 25.500 Zeichen, was ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass sich der Brief auf eine längere Fassung des Manuskripts bezogen haben muss.
Es überrascht jedoch nicht, dass sich bei einer derart umfangreichen Studie auch Fehler in den "Apparat" eingeschlichen haben. Und diese sollten ebenfalls erwähnt werden. Zum Beispiel schreibt Vr. Georgij auf Seite 70, dass E.I. Makharoblidze von 1951 bis 1967 Chefredakteur der Zeitschrift „Cerkovnaja Zhizn’" war. Doch Eksakustodian Ivanovich starb im August 1960, wie der Eintrag im Matrikelbuch unserer Kathedrale in München belegt. Außerdem war die Zeitschrift "Cerkovnaja Zhizn'" das offizielle Organ des Synods der ROKA und zog 1950 mit ihm zusammen in die Vereinigten Staaten. Makharoblidze aber konnte in dieser Zeit nicht ihr Chefredakteur gewesen sein, da er in Deutschland blieb. Er war allerdings der Chefredakteur des offiziellen Publikationsorgans der deutschen Diözese "Cerkovnye Vedomosti", welches auf Seite 77 erwähnt wird. Bedauerlicherweise findet sich aber auch dort eine Ungenauigkeit. Diese Zeitschrift wurde nicht von 1953-1964 herausgegeben, wie Vr. Georgij meint, sondern in der Zeit von 1951-1971.
Wie viele solcher Ungenauigkeiten es in dem Buch gibt, kann ich nicht beurteilen. Ob die von mir erwähnte notwendige Korrektur einen Schatten auf den gesamten kritischen Apparat wirft? Mitnichten! Der Autor hat umfangreiche Forschungsarbeit geleistet, bis hin zum Studium der Protokolle der Bischofskonzilien der Auslandskirche, was es auch dem historisch Unversierten ermöglicht, die Geschichte der westeuropäischen Diözese durch das Prisma einer privaten Korrespondenz von vor 70 Jahren zu lesen. Dies ist umso wertvoller, wenn man bedenkt, dass die Briefe eine ganze Palette von Themen berühren, die nicht direkt mit der Persönlichkeit des hl. Johannes zu tun haben, sondern mit der Geschichte der ROKA als einem Ganzen. Ja, man könnte sagen, auch mit der europäischen Geschichte als solcher.
Abschließend ist anzumerken, dass die Edition neben den Briefen auch eine Reihe von Predigten aus der europäischen Zeit des Heiligen enthält, die zwar bereits veröffentlicht wurden, aber in heute kaum bekannten Zeitschriften verstreut sind und anders wohl nur in wenigen Bibliotheken der Welt zu finden wären.
Ich erinnere mich, einst einem Gespräch eines altgedienten Klerikers unserer Diözese beigewohnt zu haben. Der zu dem Zeitpunkt noch als Protodiakon tätige Erzpriester Georgij Kobro beklagte damals mit ernster Miene und scherzhaftem Unterton eine „offenkundige“ Ungerechtigkeit: Der heilige Johannes habe in Amerika nur vier Jahre lang als Bischof amtiert (1962-1966), und doch wird er als Johannes von Shanghai und(!) San Francisco kommemoriert, während er in Europa elf Jahre lang als Bischof tätig war – und wir gedenken seiner in unseren liturgischen Gebeten nicht als Bischof „von Westeuropa".
Vielleicht können die wenig schmeichelhaften und, wie der Herausgeber der Briefe angedeutet hat, in mancher Hinsicht sogar irreführenden, aber zugleich zweifellos aufrichtigen Briefe von Petr Sergeevich Lopukhin, wenn schon nicht bei der Beantwortung der Frage helfen, so doch zumindest dabei, ein Gefühl dafür zu vermitteln, warum dies so gekommen ist.
„Wenn auch nur die geringste Chance dazu besteht, werde ich nicht von seiner Seite weichen.“
Das erste Urteil des Sekretärs und des Schatzmeisters der westeuropäischen Diözese über die Ankunft seines neuen Bischofs fiel ausgesprochen positiv, wenn nicht gar schwärmerisch aus. Auf die Frage von Vr. Georgij Grabbe, wie er seinen neuen Oberhirten finde, schrieb Lopukhin:
Wenn ich in seiner Gesellschaft bin, frohlockt mein Herz ununterbrochen, und wenn auch nur die geringste Chance dazu besteht, werde ich nicht von seiner Seite weichen. Und sollte ich fortgehen müssen, und sei es nach London, werde ich schweren Herzens gehen – so erfreulich ist es, in seiner Nähe zu sein (S. 34).
Es sei daran erinnert, dass es sich hier nicht um Eindrücke eines Neophyten handelt. Dem hl. Johannes von Shanghai begegnete der 1885 geborene Petr Sergeevich in seinem 67. Lebensjahr. Seine theologische Reife erlangte er in Belgrad durch den engen Kontakt mit solchen bedeutenden Persönlichkeiten wie Metropolit Antonij (Khrapovitskij) und Erzbischof Gavriil (Chepur). Bezeichnenderweise betonte der hl. Johannes im Jahr 1962 bei der Beerdigung von Petr Sergeevich genau diese Verbundenheit:
Metropolit Antonij wird seinem geistlichen Sohn mit Freude seine Arme öffnen. Wie der ehrwürdige Basilius der Neue, der der seligen Theodora auf ihrem Weg durch die Zollhäuser erschien und für ihre Seele ein Lösegeld zahlte, wird auch er ein Fürsprecher für die Seele von Petr Sergeevich sein. (с. 250)
Halten wir gleich fest: Lopukhins Einstellung gegenüber dem hl. Johannes änderte sich allmählich. Der Geist des Verdrusses, der Gereiztheit und zuweilen auch der Enttäuschung begann im Laufe der Jahre in seinen Briefen die Oberhand zu gewinnen. Allerdings gab es unter all den außergewöhnlichen Eigenschaften des Heiligen, die Petr Sergeevich später als frustrierend empfand, eine Sache, die den gebildeten Sekretär über die Jahre hinweg immer wieder begeisterte. Nach Einschätzung von Lopukhin hat der Herr Seinen Auserwählten mit der Gabe eines tiefgründigen theologischen Denkens begnadet. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Jahr 1951 stellte Lopukhin fest: „Seine Predigten sind außerordentlich informativ, seine Kenntnisse – so weit wie das Meer“ (S. 33). Und nachdem er zwei Jahre lang in der Nähe des Heiligen gelebt hatte, gestand Petr Sergeevich im Jahr 1953, dass das eigene Bedürfnis, zu „theologisieren“, völlig verflogen sei, lebe er doch mit einem Mann zusammen, der ein „Theologe“ im kirchenväterlichen Sinne dieses Wortes sei:
Seit ich in der Nähe von Vladyka Johannes lebe, ist mir die Lust am Schreiben vergangen: Sein Leben ist so unglaublich streng (ich glaube, Merezhkovskij oder Berdjaev würden sagen „unmenschlich“ streng), sein Wissen ist so tief, ich verstehe im Vergleich zu ihm so wenig, dass ich nicht mehr schreiben will – das wäre reiner Dilettantismus. Deshalb schreibe ich, wenn ich schreiben muss. (S. 43)
Im Laufe der Zeit begann Petr Sergeevich, an der Aufzeichnung und Veröffentlichung der Predigten des großen Heiligen zu arbeiten. So hielt er im Jahr 1955, als sich in seine Briefe bereits Unzufriedenheit mit Bischof Johannes einzuschleichen begann, am Ende seines Briefes dennoch seine Bewunderung für die Weisheit des Heiligen nicht zurück:
Wie klug er aber ist! Und was für Predigten er trotz seines Stimmdefekts hält! In dieser Fastenzeit sprach er über das Kreuz, über das Jüngste Gericht. Milina! („Gnade“ auf Serbisch – Anm. d. Red.) Ich habe aus verschiedenen Predigten einen Text zusammengestellt, der in der Zeitschrift „Cerkovnyj Golos“ abgedruckt wurde – „Vorbereitung“ nannten wir ihn – sehr gut! (S. 87)
In einem anderen Brief von 1958 schreibt Lopukhin – um ein anderes Beispiel zu nennen – abermals nach einer Welle der Entrüstung über die „unerträgliche“ Lebensweise des strengen bischöflichen Asketen:
Und doch! Bei all seiner Erschöpfung – wieviel Kraft in ihm ist, wieviel er versteht, wieviel er weiß! Wieviel er durchdacht, wieviel begriffen hat im ideologischen Bereich! (S. 128)
Im selben Schreiben berichtet Petr Lopukhin davon, welch Mühe ihm die Aufzeichnung der Predigten des hl. Johannes, die ihm der Heilige zudem – von einigen Ausnahmen abgesehen – meist noch verbot zu veröffentlichen, gekostet hat:
Ich wünschte, ich könnte dir vor Augen führen, wie er mir diese Inhalte präsentierte! Einschlafend, wieder wach werdend: „Ja, also doch... Melchisedek... Ja! Gottgefällig... Ja... Also doch, König des Friedens...“ Ich ärgerte mich und notierte zugleich, und verstand nicht, was er noch so erzählte, und das alles nachts, in der zweiten Stunde!!! Ein unerträglicher Mensch. Aber diese Formulierungen von ihm, so finde ich, liefern eine Grundlage für die Ausarbeitung einer „Orthodoxen Philosophie des Rechts“. (S. 128-129)
„Er hat sich gemartert! Er ist müde!“
Wie gesagt, erfolgte die Theologie des heiligen Johannes im Gleichschritt mit einer sich selbst gegenüber schonungslos-strengen Askese. Beispielsweise ist bekannt, dass der Heilige bestrebt war, jeden Tag die Göttliche Liturgie zu zelebrieren. Selbst wenn er nach Aussage von Petr Sergeevich bis zu vierzig Grad Fieber hatte, seine Füße geschwollen und eitrig waren, die Ärzte ihm Penicillin verabreichten und von ihm verlangten, dass er im Bett bleibe, „geht er barfuß im Matsch zum Gottesdienst“ (S. 69). Nur einmal ließ er sich zu einem längeren Krankenhausaufenthalt überreden, und das auch nur unter der Bedingung, dass er dort jeden Tag die Liturgie feiern dürfe.
Weiter ist bekannt, dass der Heilige sein ganzes asketisches Leben lang im Sitzen schlief: Er wollte den eigenen Körper nicht durch ein Bett, ja nicht einmal durch eine horizontale Schlafposition „verwöhnen“. Daher war es in der Tat schwierig, ihn dazu zu bewegen, sich in ein Krankenhaus „zu legen“. Die Bettruhe meidend, erholte sich Vladyka Johannes (nachdem er Gott um Gnade ersucht hatte?) zur Überraschung der Ärzte schnell und musste doch nicht ins Krankenhaus. Später überlagerte jedoch eine weitere Infektion die erste und es kam erneut zu gesundheitlichen Komplikationen. Daraufhin ging Bischof Johannes ins Lesna-Kloster in Frankreich. Von dort erreichte Petr Sergeevich die „unglaubliche“ Nachricht: Im Kloster „lag und schlief er im Liegen“ und fühlte sich sogar „gut, wenn er lag“ (S. 79). Als er jedoch nach Paris zurückkehrte, weigerte er sich wiederum, sich niederzulegen und wies alle Aufforderungen dazu scherzend von sich: „Zeit, dass ich wieder eine Normalposition einnehme.“ (S. 79) „Großartiger Mann“, spöttelte wiederum sein Sekretär, „aber er kann unausstehlich sein“ (S. 70).
Wenn P. S. Lopukhin anfangs, wie oben erwähnt, die asketische Lebensstrenge seines Bischofs aufrichtig bewunderte, so erschien ihm dieselbe Strenge im Laufe der Jahre immer mehr als schädliche Eigenschaft, wenn es um die Verwaltung der Diözese ging. Bereits 1954 gestand er Erzpriester Georgij:
Manchmal ist es sehr schwierig: Man hat den Eindruck, dass Vladyka oft derart erschöpft ist, dass er einfach nicht in der Lage ist, etwas zu tun. (S. 65)
Diese Abgeschlagenheit ging so weit, dass der hl. Johannes manchmal mitten während der Arbeit einschlief, obschon sich die Besucher in seinem Vorzimmer drängten, und es schien unmöglich, zu ihm durchzudringen. Gegen Ende seines Lebens berichtete der recht erschöpfte Sekretär über seinen noch weitaus erschöpfteren Bischof:
Armer Vladyka Johannes! Er hat sich gemartert! Er ist müde! Er begreift nicht, dass er seine alte Kraft nicht mehr hat! Dass sein Leben auf Anspannung und Aufschwung beruht, wenn aber der Aufschwung vorüber ist, wenn er eine schöne Predigt gehalten hat, dann bricht er wieder zusammen, nieder von seiner Höhe… Ich habe ihm neulich, als er bei guter Verfassung war, gesagt: Begreifen Sie, in welche Lage Sie sich gebracht haben? In diesem Zustand sind Sie zu nichts zu gebrauchen, Sie können nicht arbeiten, Sie können nur von Krankenhaus zu Krankenhaus gehen… Und dann gestand er mir zum ersten Mal, dass er müde sei… aber wie soll man ihn zur Ruhe zwingen! (S. 127)
„Mit den Heiligen lass ruhn, o Herr, bloß ja nicht an ihrer Seite leben“
Diese „Anekdote“, die hier Archimandrit Sergij (Pfeffermann) aus Meudon (S. 56), in der Regel jedoch dem heiligen Justin (Popovich) zugeschrieben wird, wurde in Frankreich „oft“ (S. 60) in den Mund genommen, wenn es um den hl. Johannes ging, nicht zuletzt vom Verfasser der Briefe selbst, jenem, der einst versicherte, dass er „nicht von seiner Seite weichen werde, wenn auch nur die geringste Chance dazu besteht“ und dass sein „Herz in seiner Gesellschaft ununterbrochen frohlockt“. Doch es erwies sich schwieriger als gedacht, mit einem Mann zusammenzuarbeiten, der jenseits von Raum und Zeit im Bereich des Göttlichen beheimatet war:
Manchmal möchte ich ihn um 23 Uhr verlassen, und er entgegnet mir: „In Ordnung, Sie können dann heute Abend wiederkommen“. – „Von was für einem Abend sprechen Sie, es wird bald Mitternacht!“ – „Ach, das ist mir entgangen!“ (S. 158)
Die aus weltlicher Sicht unerträgliche Askese führte dazu, dass Erzbischof Johannes offenbar mit bestimmten Verwaltungsangelegenheiten der Diözese überfordert war. „Vladyka ist ein schlechter Verwalter. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn zwar als Theologen bewundere, ihn aber nicht als Verwalter anerkenne“ (S. 56), gestand Petr Sergeevich im Jahr 1954.
Es sei darauf hingewiesen, dass der hl. Johannes – wohl nicht zuletzt aufgrund der russischen Jurisdiktionsfehden – nicht nur die schwierigste, sondern auch die ärmste Diözese der Auslandskirche seiner Zeit erhielt, deren Diözesanzentrum (das Kadettenkorps in Versailles) in „Schmutz und Armut“ (S. 66) versank. Die prekäre materielle Situation ertrug er allerdings mit asketischer Gemütsruhe, sehr zum Leidwesen seiner Mitarbeiter:
Vladyka hingegen scheint den Schmutz wirklich nicht zu bemerken. Das Schuljahr ist angebrochen, und die Matratzen sind noch nicht einmal gewaschen oder mit frischem Stroh ausgestopft worden. Die Kinder haben keine Schränke, Tische oder Stühle für ihre Kleidung, und wenn sie sich ausziehen, legen sie sie entweder auf den Boden oder auf das Bett. Der Anblick ist schmerzhaft und abstoßend, aber es berührt ihn überhaupt nicht. Er spürt den Gestank nicht. Ich kann verstehen, dass manche Mütter ihn vorwurfsvoll anblicken! (S. 66)
Interessanterweise war sich Petr Lopukhin durchaus der Tatsache bewusst, dass nur ein selbstloser Asket in der Lage ist, unter solchen Bedingungen zu leben und zu arbeiten:
Wir sind in einer abnormalen finanziellen Situation: Wir überleben nur, weil es uns fast nichts kostet, unseren Hierarchen zu unterhalten. Die Diözese ist sein Lehnsgut: nur er kann hier bleiben, und niemand kann ihn ersetzen. (S. 81)
Nichtsdestotrotz, vom weltlich-administrativen Standpunkt aus betrachtet, konstatierte der Sekretär der westeuropäischen Diözese wiederholt, "dass Vladyka hier gescheitert ist.“ (S. 85). So schrieb er zum Beispiel im Jahr 1955:
Die Stimmung bei uns ist trüb. Wie das Alter in Schüben kommt, so kommt auch die Erkenntnis des Scheiterns der Tätigkeit von Erzbischof Johannes, so sehr ich mich auch dagegen gewehrt habe. Jetzt erwehre ich mich ihrer gar nicht mehr, und untereinander sprechen wir bereits offen über dieses allen offenkundige Scheitern. Schweren Herzens sagt Graf Apraksin, dass unter den vielen, die Vladyka Johannes ein langes und gesundes Leben wünschen, auch die treuesten Eulogianer sind, weil sie wissen, dass niemand zu ihm übergehen wird. Grundsätzlich sind viele froh, dass es einen solchen Asketen gibt, aber niemand will mit ihm Umgang und Gemeinschaft im Alltag pflegen. (S. 94-95) (Hervorhebung von mir – A.F.).
„Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland“ (Mt 13,57). Das orthodoxe Europa bedurfte keines Asketen, auch nicht eines Heiligen, der nicht in der Lage war, auf die materielle Situation der Diözese günstig einzuwirken.
Und in seinen späteren Briefen kommt Lopukhin schließlich zu dem Schluss – und findet ihn angeblich in Aussagen der Nonnen des Lesna-Klosters bestätigt (S. 90) –, dass Vladyka Johannes „gar kein Altvater und Erzieher“ sei (S. 119), kein, „Starez“ (S. 119), kein „begnadeter Beichtvater“, kein „weiser Seelenforscher“ (S. 90), sondern nur ein allzu strenger Asket sich selbst und anderen gegenüber. Und deshalb
pflegt er nirgendwo, weder hier noch in Brüssel, [persönliche] Beziehungen zu jemandem, und man graut sich dort vor seiner Ankunft ebenso sehr wie hier vor seiner Rückkehr. (s. 96)
In einigen ihrer Urteile suggerieren die zweifellos fehleranfälligen, jedoch aufrichtigen Briefe von P. S. Lopukhin, dass es mit fortschreitender Amtszeit des hl. Johannes auf dem westeuropäischen Bischofssitz immer weniger Menschen in der Diözese gab, die bereit waren zu bezeugen, dass „in seiner Gesellschaft das eigene Herz ununterbrochen frohlockt“. Doch lag dies wohl kaum daran, dass die Kraft des Hl. Geistes im hl. Johannes versiegte?!
Fazit
Ein wohlbekannter Historiker unserer Auslandskirche, Diakon Andrej Psarev, ließ in einem Gespräch mit mir einmal folgenden Satz fallen: „Zweifellos“, so sagte er, „ist der heilige Johannes von Shanghai und San Francisco das Beste, was unsere Auslandskirche dieser Welt dargebracht hat.“ Dem kann und will ich nicht widersprechen. Die Kirche gebiert Heilige – das ist ihre primäre und wichtigste Aufgabe, und in diesem Sinne ist der hl. Johannes „Säule und Grundfeste“ der Russischen Kirche im Ausland. Doch stellen wir uns einmal die Frage: Hätte der Historiker dieselbe Überzeugung an den Tag gelegt, hätte er ein halbes Jahrhundert früher gelebt?
Ich möchte die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine interessante Koinzidenz lenken: 1951 veröffentlichte P. S. Lopukhin im Kloster des hl. Hiob von Počaev in München sein Büchlein „Über den orthodoxen Menschen“ – eine theologische Abhandlung über die Orthodoxe Anthropologie, basierend auf dem Leben und den Lehren des heiligen Seraphim von Sarov. Der Zufall wollte es, dass Lopukhin just in diesem Jahr dem heiligen Johannes begegnete. Das ist es, was der Theologe über den großen Wundertäter Seraphim schreibt, kurz bevor er auf den großen Wundertäter Johannes trifft:
Die Vertreter der russischen Bildungsschicht verkannten den heiligen Seraphim, verstanden ihn nicht, entdeckten ihn nicht und wandten sich nicht an ihn... In der gesamten russischen Literatur, in der Geschichte jener Zeit gibt es nicht einmal eine Erwähnung des heiligen Seraphim und Sarov... Der heilige Seraphim war ein Zeitgenosse Puschkins, Lermontovs, der Slawophilen, studiert man jedoch die russische Kultur jener Zeit, so ahnt man nicht einmal, dass zu jener Zeit in Russland ein heiliger Wundertäter lebte, ein Mann, der des Königtums Gottes teilhaftig war, dass dieses Königtum in ihm und um ihn herum hier auf dieser Welt war. Was für ein erstaunliches Phänomen ist eine solche Blindheit. Sie darf niemals vergessen werden.[1] (Hervorhebung von mir – A.F.).
Eine aufschlussreiche Beobachtung in Anbetracht all dessen, was oben zur Sprache kam, nicht wahr? Und jedem von uns steht es frei, eigene Schlüsse daraus zu ziehen.
[1] Petr Lopukhin, О православном человеке, München 1951, S. 22.