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Der Bote

Die Russische Kirche in Deutschland. Geschichte und Gegenwart

Aktualisiert: 22. März 2022



Bischof Hiob von Stuttgart

Die Russische Kirche hat im vergangenen Jahrhundert eine äußerst schwere, leidvolle und wechselhafte Geschichte durchlebt, in deren Zuge sie mehrfach an den Rand ihrer Existenz getrieben wurde und eine Reihe von unüberwindlichen Trennungen erfahren hat. Mitten in diesen Wirren müssen wir die Geschichte der Gemeinden und Kirchen auf deutschem Boden nachzeichnen, was eine etwas weitere Perspektive auf die Gesamtentwicklung der Kirche in und zwischen zwei Weltkriegen und einer Revolution nötig machen wird.

Bis 2007 befanden sich in Deutschland drei Kirchenjurisdiktionen russischer Herkunft, die einander eher feindlich gegenüberstanden. Im Mai 2007 erlebten wir die Wiedervereinigung der zwei bedeutendsten Teile der Russischen Kirche, des Moskauer Patriarchates und der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland. Die Auslandskirche besteht weiterhin als autonomer Teil der Russischen Ortskirche. Seit 2019 ist auch das „Erzbistum der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa“ mit Sitz in Paris in die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats aufgenommen worden. Es hat in Deutschland etwa ein halbes Dutzend Gemeinden.

I. Die russische Zarenzeit

Die Russische Kirche ist in Deutschland mindestens seit dem Jahre 1718 präsent[1], als in Berlin die erste Kappelle gegründet wurde, die mit zunächst wechselndem Ort, dann seit 1733 im Botschaftshaus in der Wilhelmstraße den russischen Diplomaten im Auslandseinsatz diente. 1827 wurde diese Kapelle in der Kaiserlich-Russischen Botschaft Unter den Linden 7 untergebracht. Zar Nikolaj I., der eine preussische Prinzessin geheiratet hatte, nutzte sie bei seinen Aufenthalten in Berlin, um orthodoxe Gottesdienste feiern zu können. Unter ähnlichen Umständen entstanden auch anderorts in Deutschland Hofkapellen und Gesandtschaftskirchen für russische Fürsten, Fürstinnen und Diplomaten, so z.B im Kieler und im Weimarer Schloss, in Frankfurt/Main, Wiesbaden und seit 1789 in München[2]. Eine Besonderheit ist die 1826 in Potsdam auf dem Kapellenberg erbaute Kirche des hl. Alexander Nevskij, welche die Gottesdienststätte jener in der Militärkolonie "Aleksandrovka" angesiedelten ehemaligen russischen Kriegsgefangenen war. In diesen Residenz- und Gesandtschaftskirchen fanden regelmäßige Gottesdienste im kleinen Rahmen statt.

Eine andere Kategorie[3] stellen die seit Ende des 19. Jh. entstehenden Kirchen an von Russen oft besuchten Kurorten dar, wie in Bad Ems, Baden-Baden und Bad Homburg, die in der Regel nur in den Saisonmonaten benutzt wurden. Den Bau solcher Kirchen förderte insbesondere der Erzpriester Propst Aleksej Petrovic Mal'cev, der seit 1886 in der Berliner Botschaft tätig war. Er gründete dafür die bis heute existierende "Bruderschaft des hl. Wladimir", zu deren Werken u.a. die 1901 neu errichtete Kirche in Bad Kissingen, Hauskirchen in Hamburg (1902), Bad Brückenau und Bad Wildungen sowie die Übernahme einer ehemalig evangelischen Kirche in Bad Nauheim, zu der noch ein Hospiz gebaut wurde, zählen. Die Gedächtniskirche in Leipzig, deren Bau 1913 von Petersburg aus initiiert worden war, diente ursprünglich nicht dem gottesdienstlichen Gebrauch. Insgesamt besaß die Russische Kirche in Deutschland vor dem I. Weltkrieg etwa 36 Kirchen, Häuser und Grundstücke[4].

Besondere Erwähnung verdient das Wirken des Propstes Mal'cev[5], der nicht nur ein respektables Übersetzungswerk liturgischer Texte veröffentlichte, sondern dem es auch gelang, seit 1913 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Zeitschrift herauszugeben, die "Cerkovnaja Pravda" ("Theologischer und allgemeinkirchlicher Bote im Ausland"). Sie sollte dem theologischen Austausch aber auch der Mission dienen. Von den Übersetzungen Mal'cevs wurde z.B. in der Militärkolonie in Potsdam Gebrauch gemacht, wo der deutschstämmige Priester Vasilij Antonovic Goeken auch deutsche Liturgien zelebrierte, um die Nachkommen der einst in Potsdam ansässigen Russen in die Gemeinde zurückzuholen. Die russische Geistlichkeit im Ausland unterstand in dieser Zeit direkt dem Metropoliten von St. Petersburg. Bei Ausbruch des I. Weltkriegs[6] wurden alle Botschafter und die Mehrzahl der Geistlichen aus Deutschland abberufen, unter ihnen auch Mal'cev. Vereinzelt noch stattfindende Gottesdienste provozierten mitunter publizistische Ausfälle. So kam das geistig-liturgische Leben in dieser Zeit beinahe vollständig zum erliegen.

II. Das Allrussische Konzil und die Entstehung der ROKA nach der Revolution

Im Zarenreich herrschte seit der Petrinischen Reform ein ausgeprägtes Staatskirchentum[7]. Peter der Große hatte das Patriarchat abgeschafft und jegliche synodale Versammlung von Bischöfen untersagt. Stattdessen hatte er ein Kollegialorgan nach dem Vorbild der protestantischen Kirchenverfassung eingerichtet, das er "geistliches Kollegium" nannte und das aus drei bis sieben Bischöfen sowie niederem Klerus, Mönchen und Laien bestand. Es wurde jedoch von einem kaiserlichen Prokurator beaufsichtigt und von ihm quasi geführt. Diese völlig unkanonische Einrichtung nannte sich später "Heiligster Synod" und wurde als solcher auch im Gottesdienst kommemoriert. In der gesamten Epoche des Russischen Imperiums bis zur Revolution wurde die Kirche von der Staatsmacht bevormundet[8].

In der zweiten Hälfte des 19. Jh. erlangte die Kirche langsam wieder mehr Selbstständigkeit, und begann neu aufzuleben. Schon 1905 begann auch der langjährige Wunsch nach einem Konzil Früchte zu tragen. Mit der Erlaubnis des Zaren Nikolaj II. wurde eine "vorkonziliare Kommission" eingerichtet. Er ließ die Einberufung eines solchen Allrussischen Konzils jedoch Zeit seines Amtes wegen der unruhigen Lage im Land nicht zu. Mit Ausbruch der Revolution und der Abdankung des letzten Zaren versammelte sich 1917/1918 das lang vorbereitete Allrussische Konzil, in dem auch Laien (Professoren, etc.) Stimmrechte besaßen.

Wichtigster Beschluss war zweifellos die Wiederherstellung des Patriarchats, deren größter Verfechter Metropolit Antonij (Chrapovickij) war[9]. Er erhielt bei der Wahl des Patriarchen auch mit Abstand die meisten Stimmen. Jedoch wurde die endgültige Entscheidung durch ein Losverfahren getroffen, bei dem sich Metr. Tichon durchsetzte. Der neue Patriarch war bis zu seinem Tod 1925 das Symbol der Einheit der Russischen Kirche (auf Metr. Antonij wartete eine fast noch schwerere Aufgabe, denn er sollte bald der geistige Führer der Kirche im Exil und ihr erstes Oberhaupt werden). Auf diesem Konzil wurde auch der Grund gelegt für jene Kirchenstruktur, die die Einbeziehung der Laien in die Kirchenleitung förderte und der sich heute alle Teile der Russischen Kirche auf verschiedene Weise verpflichtet fühlen.

Noch im Jahr 1918 begann als Reaktion auf den Bolschewistenputsch der Bürgerkrieg, bei dem das Land zeitweise in zwei Gebiete geteilt war. Durch die Kriegsfronten war der Kontakt eines großen Teils der Kirche zum Patriarchen nicht möglich und die dortigen Bischöfe organisierten sich um den jeweils Rangältesten zu zentralen Kirchenleitungen sowie zu Bischofssynoden für schwerere Entscheidungen (eine in Sibirien und eine in Südrussland)[10], in denen aber wiederum auch Laien saßen. Die sog. Oberste Kirchenleitung Südrusslands, die aus drei Erzbischöfen – unter ihnen Antonij (Chrapovickij) –, zwei Priestern und zwei Laien bestand, wurde beim Rückzug der weißen Armee 1920 mit dieser über die Krim nach Konstantinopel evakuiert[11]. Auf einem der 125 Schiffe, die damals an die 150 000 Flüchtlinge zusammen mit Geistlichen, Staatsbeamten, Lehrern, Professoren, Mönchen und Nonnen über das Schwarze Meer setzten, tagte zum ersten Mal auch die OKV, die nun ihre neue Verantwortung in der geistigen Führung der Emigration sah. Die Zahl der weltweiten Emigration nach dem Bürgerkrieg belief sich schätzungsweise auf 2 Millionen Menschen. In Konstantinopel wurden die 12 vertriebenen Bischöfe vom Ökumenischen Patriarchen freundlich empfangen. Am 22. Dez. erließ dieser ein Dekret[12] unter der Nr. 9084, dass der Obersten Russischen Kirchenverwaltung im Ausland, wie sie sich jetzt nannte, alle Vollmachten zur Regelung der kirchlichen und religiösen Belange der Emigranten in seinem Jurisdiktionsbereich übergab[13]. Im Juli des folgenden Jahres siedelte die Verwaltung auf Einladung des serbischen Patriarchen nach Karlowitz in Jugoslavien um. In Konstantinopel blieb Metropolit Anastasij (Gribanowski) für die Flüchtlinge zuständig. Auch in Serbien wurde den russischen Bischöfen eine faktisch autonome Verwaltung gewährt. Wir sehen hier also von Anfang eine von den Kanones nicht vorgesehene Situation, dass Bischöfe auf dem Boden einer fremden Jurisdiktion ihre Gläubigen selbstständig betreuen. Neben dem Territorialprinzip (eine Stadt – ein Bischof) etablierte sich hier das Volksprinzip als natürliche Folge der völlig neuen Diasporasituation, bei der Gläubige zusammen mit ihren Hirten und Klerikern aus ihrer Heimat vertrieben wurden und dies auch zunächst nur als vorübergehendes Exil ansahen. Dass die russischen Bischöfe im orthodoxen Ausland sich somit weiterhin als Teil ihrer Ortskirche verstanden und ihre Herde zusammenhielten, geschah mit dem ausdrücklichen Segen der dortigen Landeskirchen.

Diese Entwicklungen fanden ihre Billigung und volle Unterstützung des Patriarchen Tichon in Moskau, die er jedoch nur indirekt zum Ausdruck bringen konnte. Einmal, indem er alle Beschlüsse der OKV, die ihm durch den Vormarsch der Roten Armee in das geräumte Gebiet Südrusslands bekannt geworden waren, in das Synodalverzeichnis eintragen ließ. Zum zweiten, indem er bis zu seinem Tod in brieflichem Kontakt mit der OKV blieb und Anweisungen an die ausländischen Bischöfe auf diesem Weg gab und umgekehrt alle deren Beschlüsse nachträglich bestätigte. Der dritte Umstand ist jedoch am wichtigsten[14]. In einem Dekret vom 20. Nov 1920, also bereits nach der Evakuierung, ordnete die Synode des Patriarchen mit Dekret Nr. 362 an, dass sich die Bischöfe, die zeitweise von Moskau abgeschnitten sind, sich zu Obersten Kirchenverwaltungen organisieren sollten, genauso, wie es tatsächlich geschehen war. Dieses Dokument gilt bis heute als „magna charta“ und kanonische Grundlage der Auslandskirche[15].

Im Januar 1921 wurde Erzb. Evlogij von der OKV für die Verwaltung Westeuropas bestellt. Im März erging vom Patriarchen die gleiche Anordnung, offenbar als Bestätigung. Im selben Jahr berief die Auslandskirche die erste Gesamtversammlung der russischen Emigration ein, die nach dem Vorbild des Allrussischen Konzils von 1917/18 zusammengesetzt war und sich in dessen Tradition als Konzil verstand[16]. In der Folge wurde Metropolit Antonij als Rangältester Bischof zum Vorsitzenden der OKV wie des Bischofskonzils und damit schließlich zum ersten Ersthierarchen der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (bis 1936). Dies wurde durch die Formulierung "Vikar des Patriarchen" unterstrichen, wodurch er als Stellvertreter desselben erschien. Zu jener Zeit befanden sich 34 Bischöfe außerhalb der sowjetischen Staatsgrenzen, die alle die Bestimmungen dieses Organes akzeptierten. Den Konzilsakten ist außerdem zu entnehmen, dass auch der Ökumenische Patriarch, der Patriarch von Russland und der Patriarch von Serbien das Konzil ausdrücklich anerkannten. Metr. Evlogij von Westeuropa versuchte eine relative Autonomie für seinen Metropolitankreis zu erwirken. Er sah sich nur "locker" mit der neuen Kirchenverwaltung verbunden.

1922 wurde Patriarch Tichon offenbar gezwungen, ein Dekret zu unterzeichnen, das die Auflösung der OKV wegen ihres politischen Engagements gegen die Sowjetmacht forderte[17]. Die OKV handelte damals stets "im Namen des Patriarchen", was zu Repressalien gegen Tichon und schließlich zu seiner Inhaftierung führte[18]. Unter den Bischöfen im Ausland bestand kein Zweifel, dass es sich um ein Dokument handelte, dass nur unter dem Druck der Bolschewiken und auf deren Veranlassung unterschrieben worden war. Trotzdem versuchte Metr. Antonij, ihm wenigstens formell zu entsprechen und gründete statt der OKV den sog. "provisorischen Bischofssynod"[19], den auch alle 28 emigrierten Bischöfe anerkannten. Damit war es dem Metropoliten gelungen, nebenbei eine gesündere kirchliche Verfassung einzurichten, bei der die Bischöfe endlich selbstständig handeln konnten.

Von der Konzilsidee von 1917/18 blieb in der Auslandskirche lediglich die Einrichtung des sog. "Allausländischen Konzils"[20] (Gesamtkonzil bei G. Seide) erhalten, das bis jetzt von fast jedem Ersthierarchen einmal einberufen wurde. In dieses werden Abgesandte von jeder Diözese, Priester, Diakone und Laien berufen, die unter Anwesenheit der Bischöfe wichtige Entscheidungen besprechen. Die Resolutionen dieses "Konzils" bedürfen jedoch der Anerkennung durch ein stets im Anschluss stattfindendes Bischofskonzil, welches volle Souveränität behält. Auf der allgemeinen Versammlung haben die Bischöfe daher auch kein Stimmrecht. Der ständige Synod, der bis 1943/44 in Karlowitz, nach dem Krieg bis 1949 in München, dann bis 1957 in Mahopac (bei New York) und seither schließlich in NY seinen Sitz hat[21], besteht aus 5 (teilweise bis zu 8) Bischöfen und ist dem Bischofskonzil Rechenschaft schuldig.

Auf dem Konzil von 1923 wurde auch der Status der westeuropäischen Metropolie neu besprochen. Man räumte Evlogij eine streng definierte Autonomie innerhalb der Auslandskirche ein und forderte, dass er in den "wichtigsten Zentren der russischen Emigration" Vikarbischöfe ernennen sollte, was er auch befolgte. Die erste Ernennung erfolgte 1924. Tichon (Ljaschtschenko) wurde Bischof von Potsdam und Vikar von Deutschland. Insgesamt bekam Evlogij damals vier Vikare.

Die Bischöfe in den neu gegründeten Staaten in Finnland, dem Baltikum und Polen konnten wegen des Druckes der antirussischen Regierungen nur noch inoffiziell die Auslandssynode anerkennen. Im Jahr 1923 unterstützten diese Staaten einen unkanonischen Eingriff des Ökumenischen Patriarchen, der Finnland, Estland, Litauen und Polen zu autonomen bzw. autokephalen Kirchen unter seiner Jurisdiktion machte[22]. Die Bischöfe mussten sich fügen oder wurden ausgewiesen. Drei Bischöfe traf letzteres Schicksal, woraufhin sie sich der Auslandskirche anschlossen. Diese Ausnutzung der geschwächten Lage, in der sich die russische Kirche damals befand, rief auf beiden Seiten der Russischen Kirche Protest hervor und ist eine der Ursachen der bis heute schlechten Beziehungen der Auslandskirche zum ÖP. Das Konzil von 1924 – das letzte gemeinsame aller Auslandbischöfe – wies nochmals die Ansprüche des ÖP auf die westeuropäischen und nordamerikanischen Diözesen zurück.

Als auf dem nächsten Konzil 1926 der Antrag gestellt wurde, grundlegende Fragen bezüglich der Verwaltungsstruktur zu besprechen, und dieser gegen den Protest Evlogijs angenommen wurde, verließ dieser demonstrativ die Sitzung[23]. Ihm folgte auch Metropolit Platon von Nordamerika, dessen Gemeinden ihn ohnehin bereits unter Druck gesetzt hatten, weil sie "unabhängig" werden wollten. Die übrigen Bischöfe tagten jedoch weiter und beschlossen das deutsche Vikariat zu einer eigenständigen Diözese zu erheben. Entscheidender war jedoch, dass auf diesem Konzil die Kommemoration des Metr. Antonij vor dem jeweiligen Ortsbischof eingeführt wurde, womit endlich die faktische Situation klaren Ausdruck fand, nämlich dass Metropolit Antonij der Ersthierach, alle anderen Bischöfe ihm unterstellte Diözesanbischöfe sind. Evlogij protestierte schriftlich gegen diese Bestimmungen und erklärte fortan die Auslandssynode für ungültig gemäß dem Dekret des Patriarchen Tichon[24].

Sein Schritt zur Abspaltung entbehrte der kanonischen Grundlagen und in der Folge erlebte seine Diözese eine traurige Unstetigkeit, die wir kurz skizzieren wollen:[25] 1927-30 unterstellte er sich dem Moskauer Patriarchat. Patriarch Sergij hatte 1927 offiziell mit der Auslandskirche gebrochen und durch eine Loyalitätserklärung einen unseligen Weg der völligen Unterwerfung unter die atheistische Macht eingeschlagen, in der er unter Anderem forderte, jegliche Christenverfolgung seitens der Sowjets zu leugnen. Als Metropolit Evlogij 1930 an einem Bittgottesdienst für die in der Sowjetunion verfolgten Christen teilgenommen hatte, belegte Sergij ihn daher mit Zelebrierverbot. Daraufhin unterstellte er sich dem Ökumenischen Patriarchat, mit dem Verweis darauf, dass das MP nicht frei sei und keine normale Kommunikation mehr möglich sei, erklärte aber diesen Zustand als ein Provisorium. 1945 brach er wiederum mit dem ÖP und unterstellte sich Moskau. Diese Situation hielt jedoch nur für ein halbes Jahr, wonach die Diözese quasi verwaist blieb. Nach dem Selbstverständnis war sie "autonom". Erst 1947 nahm das ÖP sie wieder auf. 1965 entließ es sie wegen Druck aus Moskau erneut und empfahl die Unterstellung unter Moskau. Sie blieb jedoch bis 1970 wieder "autonom", als sie wieder unter das ÖP kam. 2018 wurde die Metropolie plötzlich vom ÖP „aufgelöst“ und alle Priester dazu aufgerufen, sich dem örtlichen Bischof des ÖP zu unterstellen, was nur einzelne Gemeinden taten. Die meisten Gemeinden wechselten 2019 mit ihrem Oberhaupt, Erzbischof Johannes (Renneteau) ins Moskauer Patriarchat, wo sie ihren autonomen Status behielten.

Die Spaltung veranlasste den Synod von 1927 dazu, die westeuropäische Diözese neben der "Pariser Jurisdiktion" neu zu organisieren[26], denn überall gab es Gemeinden, die der Auslandskirche treu blieben. Das neue Bistum Westeuropa (ohne Deutschland) der Auslandskirche umfasste 31 Gemeinden mit Schwerpunkt in Paris. Das Mengenverhältnis zu den „Evlogianern“ blieb bis in die heutige Zeit etwa 2 zu 1. Evlogij hatte damals inclusive Deutschland ca. 62 Gemeinden. Ende der 80´er waren es nur noch ca. 50 Gemeinden mit etwa 30 000 Gläubigen[27].

Die oben bereits erwähnte Loyalitätserklärung des damaligen Patriarchatsverwesers und Metr. Sergij (Stragorodskij) wurde von den Bischöfen im Ausland als Verrat an der Wahrheit und Verleumdung der Verfolgten verstanden. Während hunderte bekennende Bischöfe in Haft und Folter, tausende Priester und hunderttausende Christen unter willkürlicher Verfolgung und Mord litten, rief Sergij dazu auf, sich mit der neuen Macht zu identifizieren und bezeichnete jeden, der nicht mit deren Handlungen einverstanden war, als Verräter. "Wir wollen Rechtgläubige sein und zugleich die Sowjetunion als unsere irdische Heimat anerkennen, deren Freuden und Erfolge unsere Freuden und Erfolge, deren Mißerfolge unsere Mißerfolge sind"[28]. Angesichts des Terrors jener Tage klingt das wie ein realitätsfremder Traum. Er forderte alle Bischöfe, auch die im Ausland, dazu auf, diese Loyalitätserklärung zu unterzeichnen und in Zukunft zu leugnen, dass es unter den Bolschewiken Christenverfolgungen gegeben habe und gebe.

Er selbst äußerte öffentlich mehrfach die Behauptung, es gebe keine Verfolgung in der Sowjetunion. Den leidenden Gläubigen in der Sowjetunion erschien es als Verhöhnung ihres Bekenner- und Märtyrertums und als moralische Niederlage dieses Hierarchen, wenn er vor der Weltöffentlichkeit verkündete, dass nur politische Verbrecher und Kriminelle in die Gulags kämen. Wir können seine Handlung in zweierlei Hinsicht verstehen. Zum Einen erhoffte sich Sergij durch diese Unterwerfung, die Kirche zu "legalisieren", zum anderen schien es, als wollte er durch die Zusammenarbeit mit den Bolschewiken die Kirchenleitung usurpieren und den Patriarchenthron besteigen. Von den amtierenden Bischöfen lehnten 26 die Deklaration ab, von den auf den Solowki Inseln inhaftierten 100 Bischöfen protestierten 60 ausdrücklich dagegen und auch die Mehrzahl der Gemeinden sandten die Erklärung unter Protest zurück[29]. Die Bolschewiken nahmen das zum Anlass, alle Bischöfe und Kleriker, die mit Sergijs Weg nicht einverstanden waren, gefangen zu nehmen oder direkt zu ermorden. Diese Verfolgung führte schließlich zur Spaltung zwischen der sog. Sowjetkirche und der „Katakombenkirche“, die bis in die 80er Jahre hinein im Untergrund existierte. Es blieben in den 20'ern etwa 40 "freie" Bischöfe bei ihren Eparchien, die Sergij z.T. anerkannten. Seit diesem Akt mischte sich der Staat ständig in die Angelegenheiten der Kirche ein, während Sergij und seine Nachfolger stets bereit waren, jede erwünschte prosowjetische Erklärung abzugeben. Die Bolschewiken konnten auf diese Weise, ohne einen Aufstand der Christen oder eine Hilfe aus dem Westen befürchten zu müssen, diese verfolgen und morden, Kirchen schließen, schänden und zerstören, Bischöfe und Kleriker verbannen, foltern und töten. Nach dem Höhepunkt des Stalin-Terrors 1936/37, welcher der völligen Vernichtung der Kirche gewidmet war, blieben überhaupt nur noch 4-7 Bischöfe und an die 500 Priester bei ihrer Herde bzw. am Leben. Inmitten des zweiten Weltkrieges akklamierten schließlich etwa 12 Bischöfe ohne Gegenkandidaten und ohne Wahlen Sergij zum Patriarchen, während noch an die 100 weitere in den kommunistischen KZ's saßen.

Die Auslandskirche reagierte[30] auf diese Entwicklungen durch Ablehnung der Forderungen Sergijs und dadurch, dass sie sich seit 1927 autonom regierte, jedoch mit dem Vorbehalt, dass der Kontakt zur Mutterkirche wieder aufgenommen werden soll, sobald sie wieder frei ist, bzw. normale Beziehungen wieder möglich sind. Sie fühlte sich immer als ein Teil der einen russischen Kirche, wodurch auch der Umstand zu verstehen ist, dass sie sich selbstständig verwaltete und ihre Herde auch im Ausland noch begleitete. Die Exilkirche sah darin ihre moralische Pflicht, als „freier Teil“ vor der Welt Zeugnis von der Wahrheit über die Lage in der Sowjetunion abzulegen. Die Patriarchen Sergij, Alexij I. und Pimen wurden völlig unkanonisch eingesetzt, was die Bischöfe der Auslandskirche nicht akzeptieren konnten.

III. Die erste Emigration in Deutschland nach 1918 und die Politik des Dritten Reiches

Die im Zuge der Oktoberrevolution aus der Heimat geflüchteten Russen ließen sich in Deutschland und anderorts in der Hoffnung nieder, dass die Verhältnisse in Russland bald wieder besser werden und sie wieder zurückkehren könnten. Sie gaben sich daher meist mit einer provisorischen Unterkunft ab und waren auch mit mobilen und einfachen Gottesdienststätten zufrieden. Das erklärt, warum in der Zeit zwischen den Kriegen bis auf eine Kirche in Berlin keine neuen Andachtsstätten entstanden. Anfangs waren etwa 200 000 russische Flüchtlinge in Deutschland, die jedoch in den späten 20er Jahren (Weltwirtschaftskrise) massenweise auswanderten. Es ließen sich wohl an die 100 000 Emigranten für längere Zeit hauptsächlich im Bereich Berlin und Umgebung nieder[31]. Anfang der 30er Jahre war diese Gruppe in unterschiedliche Jurisdiktionen geschieden: Die ROKA, das MP und das Exarchat des ÖP mit dem Zentrum Paris. Zum MP gehörte nur eine Gemeinde mit 50 Gläubigen, die wir im Folgenden vernachlässigen können. Zum 1926 von der Auslandskirche gegründeten Bistum Deutschland, das der ehm. Vikar Evlogijs, Erzb. Tichon (Ljaschtschenko), leitete, gehörten 1935 vier Gemeinden. M. Evlogij unterstanden neun Gemeinden, die den Status einer "registrierten Gemeinschaft" (Vorläufer des e.V.) besaßen sowie vier nicht registrierte Gemeinden. Als 1933 die Katholische und die Evangelische Kirche nach dem sog. Reichskonkordat den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhielten, begannen auch die drei russischen Jurisdiktionen, sich um diesen Status zu bemühen. Erst 1935 mit der Schaffung des „Reichs- und Preußischen Ministeriums für kirchliche Angelegenheiten“ durch Hitler, das die "Gleichschaltung" der Kirchen herbeiführen sollte, begann das neue Regime sich für die russische Emigration zu interessieren. Der Leiter dieses Ministeriums, Hanns Kerrl, war jedoch den Kirchen entgegen der NS-Ideologie wohlgesonnen[32], was 1941 schließlich zu seiner Liquidierung führen sollte.

Zunächst musste sich der Staat entscheiden, welche Jurisdiktion er anerkennen sollte (für eine Gleichschaltung und Kontrolle der Orthodoxen Kirche). Die Wahl fiel aus guten Gründen[33] auf die Auslandskirche, unter Anderem, da diese weltweit die russische Emigration zu 95% vertrat und man vom Bistum Deutschland eher Loyalität erwarten konnte als von einer Gruppe, die im feindlichen Frankreich ihr Zentrum besaß. 1936 wurde der "orthodoxen Diözese des Orthodoxen Bischofs von Berlin und Deutschland" der Status der KdÖR verliehen, d.h. seitdem war der russische Bischof für alle Orthodoxen in Deutschland zuständig, was viele orthodoxe Landeskirchen sogar noch nach dem II. Weltkrieg bis in die 60er Jahre hinein respektierten[34], als zunächst das Ökumenische Patriarchat das orthodoxe Territorialprinzip durch Gründung einer eigenen Jurisdiktion durchbrach. Das Kirchenstatut wurde von der Synode in Karlowitz ausgearbeitet, dann vom Reichskirchenministerium redigiert und vom Bischofskonzil der Auslandskirche am 23. Oktober 1935 bestätigt[35]. Im Verständnis der Beamten sollte es dem Staat weitgehende Kontrolle über die Kirche ermöglichen.

Reichsminister Kerrl setzte den Synod sowie Erzb. Tichon auch von der Möglichkeit in Kenntnis, in Berlin eine Kathedrale zu errichten[36], wofür das Reichskirchenministerium Geldmittel zur Verfügung stellen wolle. Um die Baukosten aufzutreiben, brachte sich der Minister mehrfach in Schwierigkeiten, da sein Ministerium allein die Mittel nicht aufbringen konnte. Schließlich wurde 1936 der Grundstein gelegt und das fertige Gebäude 1938 feierlich eingeweiht. Viele Spenden aus Serbien und Rumänien waren dazu eingegangen und die Ikonostase wurde von Metr. Dionisij von Warschau gestiftet.

Die deutschen Behörden waren seit 1935 bemüht, die Gemeinden der anderen Jurisdiktionen zum Wechsel zu bewegen und drohten z.T. sogar mit polizeilichen Aktionen, jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Den Versuch Evlogijs, Bischof Sergij (Korolev) aus Prag nach Deutschland zu berufen, um seine Jurisdiktion zu stärken, wurde von den Behörden vereitelt[37]. Erb. Tichon billigte diese Politik, da er ein persönlicher Gegner seines ehm. Vorgesetzten war. Regelmäßig wurden die Geistlichen der Pariser Jurisdiktion in die Behörden zitiert und bearbeitet. Als Haupthindernis für die Priester erschien jedoch die Person des Erz. Tichons und die NS-Behörden nahmen dies schließlich zum Anlass, dem Synod in Sremski Karlovci ihr Misstrauen gegenüber Tichon auszudrücken und seine Abberufung vorzuschlagen[38]. Der Auslandssynod hatte auch eigene Gründe, Tichons Fall zu untersuchen. Die Synode entschied 1938, nachdem sie Erzbischof Feofan für eine Untersuchung nach Berlin entsandt hatte und dieser von der schlechten Lage in den Gemeinden berichtet hatte, Erzb. Tichon in den Ruhestand zu versetzen und statt seiner Metr. Serafim (Lade), einen gebürtigen Deutschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, zu entsenden.

Metr. Serafim (Vorsteher der Diözese von 1938-1950) rettete de facto die Lage, in dem er versuchte, die evlogianischen Gemeinden vor den Behörden in Schutz zu nehmen und sich ihnen gegenüber freundlich verhielt. Damit unterwanderte er die Politik des Reichskirchenministeriums, das somit nichts mehr ausrichten konnte. Schließlich lösten sich die Probleme durch die Regelung des russischen Kirchenbesitzes in Deutschland zu Gunsten der ROKA 1938 von selbst auf[39]. Die Gemeinden, die alten russisch-kaiserlichen Kirchenbesitz nutzten, mussten sich nun formal der deutschen Eparchie anschließen, um nicht ihres Grundes verwiesen zu werden. Um die vier unter Evlogij verbliebenen Gemeinden in Deutschland bemühte sich nun die Gestapo, indem sie versuchte, die widerspenstigen Priester auszuweisen. Auch hier setzte sich Metr. Serafim erfolgreich für die Geistlichen ein. Er bot den 1939 noch verbliebenen drei Gemeinden schließlich an, sich formal seiner Metropolie anzugliedern und trotzdem selbständig und unter der Pariser Jurisdiktion zu verbleiben. Die Rechte, die dem Metropoliten durch diese Regelung vom Ministerium zuerkannt wurden, nahm er kaum in Anspruch[40].

"Mit der Expansion des Dritten Reiches (1938/1939) begannen die Beamten des Reichskirchenministeriums ihre Idee, die deutsche orthodoxe Eparchie auf alle von Deutschland kontrollierten Gebiete auszuweiten, zu verwirklichen."[41] Dem Metr. Serafim wurden nun die orthodoxen Gemeinden in Österreich, im Protektorat Böhmen und Mähren und z.T. in Polen zugewiesen – alles Jurisdiktionen, die auch vorher meist der Auslandskirche angehörten. Der Synod in Karlowitz bestätigte diese neuen Diözesangrenzen notgedrungen. M. Serafim bemühte sich damals um die in den 20er und 30er Jahren schwer verfolgte orthodoxe Kirche in Polen und entsandte einen Vikarbischof (B. Vasilij) in das besetzte Land, um die Gläubigen vor den Besatzern in Schutz zu nehmen. Der Versuch des RKM, auch Belgien, Luxemburg, Lothringen und später die Slowakei und Ungarn der deutschen orthodoxen Diözese anzuschließen und damit ein "einflußreiches Zentrum der orthodoxen Welt in Deutschland" zu schaffen, wurde letztlich von den höheren NS-Behörden nicht gebilligt. Auch die Einrichtung eines Orthodoxen Instituts und eines Priesterseminars wurden unternommen, was jedoch ebenfalls durch die Behörden vereitelt wurde.

Alle diese Aktionen, die vom RKM ausgingen, sollten vorgeblich der internationalen Propaganda dienen. Kerrl erhoffte sich davon, dass Deutschland als Beschützer der von den Bolschewiken verfolgten Kirche dastehen könnte. Daher wollten sich die Behörden auch keine öffentlichen Repressalien gegen die Evlogianer leisten. Für die eher gute Situation der ROKA unter den Nationalsozialisten – im Grunde hat der Staat alle seine Ziele verfehlt – waren auch die deutschen Verbündeten Rumänien und Bulgarien verantwortlich, auf die man Rücksicht nehmen wollte.

Beim Einfall der deutschen Wehrmacht in Russland wurde jedoch die deutsche Metropolie daran gehindert, ihren Einfluss auf das neu besetzte Gebiet auszudehnen und bei der Wiederbelebung des kirchlichen Lebens Hilfe zu leisten. Metr. Serafim konnte keine Informationen aus den besetzen Gebieten einholen und wurde auch immer mehr von seinen eigenen Gemeinden isoliert. In seinem Rechenschaftsbericht vor dem Bischofskonzil von 1946 sagte er: Die „deutschen Behörden standen allem im Weg, was der Kirche nützlich sein konnte“[42].

IV. Die Lage im Ausland nach dem Zweiten Weltkrieg

Während und nach dem Krieg waren in Europa die Informationswege zwischen den Fronten bzw. Besatzungszonen weitestgehend unterbrochen. Im Nachkriegsdeutschland war die Lage besonders schwierig[43]. Viele Gemeinden wussten überhaupt nicht mehr, ob der Auslandssynod noch existierte. Es dauerte ein halbes Jahr, bis der Synod, der nun nach München gezogen war, seine Beziehungen zu den Diözesen und Gemeinden außerhalb Deutschlands wiederherstellen konnte.

Das Moskauer Patriarchat machte sich die Lage zu Nutze und versuchte, möglichst viele Teile der Emigranten dem Patriarchat anzugliedern[44]. Es forderte alle russischen Bischöfe und Gemeinden im Ausland auf, sich der nun angeblich freien Mutterkirche zu unterstellen. Dazu bereisten nach dem Krieg die Metropoliten Grigorij und Nikolaj mit Hilfe der sowjetischen Militäradministration die von den Sowjets neu besetzten Gebiete sowie Europa, Asien und Amerika, um die dortigen Gemeinden und Bischöfe zur Rückkehr zu bewegen. Der Bischof der westeuropäischen Diözese der Auslandskirche, Metr. Serafim (Luk´janov) wurde von Metr. Nikolaj mit der Drohung, er werde ihn wegen Kollaboration mit den Deutschen anzeigen, zum Anschluss überredet. Derselbe bereute dies jedoch bald und brach die Beziehungen zu Moskau wieder ab. Während die Kleriker, die von der Roten Armee in Fernost, Jugoslavien, Bulgarien, Rumänien und der Slovakei noch angetroffen wurden, gezwungen waren, Moskau als neuen Herrn anzuerkennen und daneben die Pariser Jurisdiktion sowie die Amerikanische Metropolie, von der Siegespropaganda der Bolschewiken zeitweise geblendet, den neuen Ansprüchen des Patriarchats nachgaben, schlossen sich ansonsten mit wenigen Ausnahmen keine weiteren Gemeinden freiwillig dem MP an. Metr. Anastasij (Gribanowski), das neue Oberhaupt der ROKA, erklärte gleich nach dem Krieg in einem Sendschreiben, warum zum gegebenen Zeitpunkt keine Wiedervereinigung mit Moskau möglich sei[45]. Die Auslandskirche hatte jedoch durch die Expansion der Kommunisten und die machtpolitische Unterstützung der Moskauer Jurisdiktion durch die Sowjetunion ihre früheren Zentren und einen Großteil ihres Besitzes verloren und musste sich nach 1945 völlig neu organisieren. Sie hatte über 500 Gemeinden, 19 Klöster, Druckereien und karitative Einrichtungen (hauptsächlich in Osteuropa und der Mandschurei) verloren. Die überwiegende Mehrheit der neuen Flüchtlingswelle schloss sich jedoch wegen der konsequenten Haltung des Ersthierarchen Metr. Anastasij gegenüber den Forderungen des MP (hinter denen natürlich die Sowjetmacht stand) der ROKA an.

V. Die deutsche Diözese der ROKA in der Nachkriegszeit

Nach dem II. Weltkrieg hatte Deutschland erneut die Hauptlast der Flüchtlinge aus Russland zu tragen.[46]Nachdem durch das Jalta-Abkommen 1945 etwa 2 Mio. Sowjetbürger aus Deutschland zwangsweise in die UdSSR deportiert wurden, gab es etwa noch 500 000 Flüchtlinge in den westlichen Besatzungszonen. Zwischen 1948 und 1952 sank ihre Zahl auf etwa 27 000 Gläubige. Die dritte Zuwanderungswelle in den 90er Jahren vermehrte diese Zahl wieder um etwa 40 000 ehm. Sowjetbürger neben der alten Emigration. Seitdem hält die vierte größere Welle von Emigranten (bis jetzt etwa 300 000) an. Von den ersten Flüchtlingen, die zumeist planten, nach Übersee auszuwandern, wurden innerhalb weniger Wochen und Monate 200 Gemeinden gegründet[47], die in der Regel auch über eine Barackenkirche verfügten. Allein im Raum München gab es bald 14 Gemeinden mit 12 Kirchen, das Mönchskloster des Hl. Hiob von Počaev, 3 russische Gymnasien, Kindergärten, Volksschulen und zahlreiche Bildungseinrichtungen[48]. Unter den Flüchtlingen befanden sich mehr als 16 Bischöfe und über 300 Priester, die jedoch größtenteils nur zeitweise in Deutschland blieben. Um die neuen Flüchtlingsmassen in der deutschen Diözese besser betreuen zu können, wurden bald nach dem Krieg neue Vikarbistümer errichtet: in Wiesbaden für Hessen (Erzb. Filofej), in Bad Kissingen für Bayern (B. Aleksandr) und in Hamburg für die britische Besatzungszone (B. Afanasij), sowie einen Bischof (Venedikt) für die weißrussischen Gläubigen und einen (B. Evlogij) für die ukrainischen[49]. Im Jahre 1947 gab es noch 180 Gemeinden[50], die über einen eigenen Gottesdienstraum verfügten. Daneben entstand das Phänomen der sog. Gottesdienstpunkte[51], an denen zwar regelmäßig Gottesdienste stattfanden, aber kein ständiger Kirchenraum zur Verfügung stand. In den 60er Jahren haben wir ca. 75 Kirchen und 130 Gottesdienstpunkte. Ende der 70er wurden diese Punkte aufgegeben, da die Gläubigen nun größtenteils in der Lage waren, die Gottesdienste in der nächstgelegenen Gemeinde zu erreichen. Schon seit 1945 gibt es das Kloster in München, das von den vertriebenen Mönchen der ROKA aus Ladomirova (Slowakei) gegründet wurde.

Heute zählt die deutsche Diözese ca. 76 Gemeinden (Tendenz wieder steigend), ein Männer- und ein Frauenkloster mit einem Metropoliten, S. E. Mark von Berlin und Deutschland, seinem Vikar, Bischof Hiob von Stuttgart, ca. 50 Priestern (davon drei im Mönchsstand) und knapp 30 Diakonen.

Die Pariser Jurisdiktion hatte in den 60er Jahren versucht, die alte Kirche in Bad Ems auf gerichtlichen Weg einzuklagen[52] mit dem Verweis darauf, dass die Regelung von 1938 ein NS-Gesetz war. Die Klage wurde in allen Instanzen abgewiesen. Ebenso versuchte ein Teil der Gemeinde in Baden-Baden, sich dem MP zu unterstellen und die Kirche in ihren Besitz zu bringen. Sie wurde vom Gericht gezwungen, das Gebäude herauszugeben. Dazu muss man sagen, dass die Alliierten nach dem Krieg alle im Dritten Reich erlassenen Gesetze auf ihre Ideologie untersucht hatten und jene Gesetze, die die Russische Kirche betreffen, für rechtmäßig befanden. Daher sind sie bis heute gültig.

Heute zählt die deutsche Diözese ca. 76 Gemeinden (Tendenz wieder steigend), ein Männer- und ein Frauenkloster mit einem Metropoliten, S. E. Mark von Berlin und Deutschland, seinem Vikar, Bischof Hiob von Stuttgart, ca. 50 Priestern (davon drei im Mönchsstand) und knapp 30 Diakonen.

Das Statut der deutschen Diözese von 1936 sieht einen "bischöflichen Rat" (Diözesanrat) und eine Diözesanversammlung vor. Der Bischof ist der "Vertreter der Diözese in allen ihren Angelegenheiten". Der ständige Diözesanrat, dem der Bischof vorsitzt und der das exekutive Organ der Verwaltung darstellt, besteht zur Hälfte aus geistlichen und weltlichen Mitgliedern (also mindestens zwei). Er wird bei Bedarf einberufen. Die Diözesanversammlung wird vom Bischof mindestens alle vier Jahre einberufen und besteht aus den Geistlichen der Diözese sowie weltlichen Mitgliedern, die von den einzelnen Gemeindeversammlungen für die Dauer von vier Jahren gewählt werden. Jede Gemeinde hat einen Kirchenvorstand. In der Regel ist dies der Priester, der die Gemeinde nach außen und nach innen vertritt. Daneben gibt es einen Kirchenältesten (Laie) und einen Schatzmeister sowie weitere Ämter, je nach Bedarf. Das Statut aus der Zeit des Dritten Reiches wird heute entsprechend des Selbstbestimmungsrechtes, das für Körperschaften nach der deutschen Verfassung gilt, ausgelegt und gilt daher nur insoweit, als es diesem nicht widerspricht. Die Gemeindesatzung der Auslandskirche wurde mehrmals modifiziert (gültige Fassung 1957) und ist in deutscher Übersetzung erstmals 1989 publiziert. Ungeachtet der Bestimmungen im Körperschaftsstatut wendet die deutsche Diözese natürlich diese Satzung sowie auch das aktuelle Statut der Auslandskirche an.

VI. Die Berliner Diözese des Moskauer Patriarchates

Die Kathedrale in Berlin (wie auch alle Kirchen in der DDR) wurde nach dem Krieg von der Roten Armee beschlagnahmt und wird seitdem von einem Bischof des MP genutzt, der in Ostberlin (in Karlshorst) residierte und bis in die 80er Jahre jeden Sonntag mit einer Polizeieskorte zu seiner Kirche anreiste, weil sie im Westteil der Stadt liegt. Ansonsten gab es lange Zeit bis auf eine weitere Gemeinde in der DDR keine weiteren Kirchen des MP. Neben der Berliner Diözese gab es bald noch eine Leipziger und seit 1971 eine Düsseldorfer Diözese, die alle jeweils nur aus einer kleinen Gemeinde bestanden. Erst in den 80ern entstanden dann zunächst im Osten neue Gemeinden. 1992 wurden die Berliner und die Leipziger Diözese zu einer Eparchie verbunden und der bis heute amtierende Erbischof Feofan wurde Bischof von Berlin und Deutschland mit damals zwölf Gemeinden. Seit dem entstanden auch vermehrt im Westen dort, wo es zumeist bereits eine Kirche der Auslandskirche gab, Konkurrenzgemeinden.

Heute (Stand 2022) zählt das MP in Deutschland etwa 96 Gemeinden, 68 Priester und 19 Diakone, von denen 11 im Mönchstand sind. Die Diözese ist in 5 Probsteien (Blagočinye) aufgeteilt (Ost-, West-, Nord-, Süddeutschland und Bayern-Hessen).

Dem Bischof untersteht ein ständiger Diözesanrat als Exekutive, derzeit aus zwei Priestern. Mindestens einmal im Jahr soll eine Diözesanversammlung einberufen werden, welche jedoch nur die Funktion hat, die Hälfte der Mitglieder des Diözesanrates zu wählen. Jeder Gläubige kann an der Versammlung teilnehmen, aber nur die Geistlichen sind stimmberechtigt. Die zweite Hälfte der Mitglieder des Diözesanrates wählt der Bischof selbst.

VII. Die Russische Orthodoxe Kirche in Deutschland heute

Die administrativen Strukturen der drei russischen orthodoxen Kirchenjurisdiktionen bleiben bis heute voneinander unabhängig. Zugleich besteht eine enge pastorale Zusammenarbeit, insbesondere in der Jugendarbeit und im sozialen Dienst der Kirche. Ein Mal in zwei Jahren findet eine gemeinsame mehrtägige Pastoralversammlung statt, an der alle Geistlichen der Russischen Diözesen teilnehmen. Die Beziehungen zwischen den Priestern der beiden Jurisdiktionen sind brüderlich und kollegial, besondere Anlässe werden gemeinsam begangen und zelebriert.

Auch vor dem deutschen Staat und der deutschen Gesellschaft spricht die Russische Kirche zumeist mit einer Stimme.

Die Deutsche Diözese der ROKA in Deutschland ist nicht nur in liturgischer Einheit mit dem Patriarchat von Moskau, sondern auch seit Generationen eng mit der Orthodoxen Kirche in der Ukraine verbunden.

[1] Käte Gaede, Gemeinden der Russischen Orthodoxen Kirche in Deutschland, in: K. Chr. Felmy u.a. (Hgg.), Tausend Jahre Christentum in Rußland, Göttingeen 1988, S. 931. [2] Vgl. AaO., S. 932. [3] Vgl. AaO., S. 933. [4] Michail Shkarovskij, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches gegenüber den orthodoxen Kirchen in Osteuropa (1939-1945) (Forum Orthodoxe Theologie 4), Münster 2004, S. 11. [5] Vgl. Käte Gaede, AaO., S. 933f. [6] Vgl. AaO., S. 935. [7] Vgl. Archimandrit Mark, Der Geistliche und seine Gemeinde. Zur Lage in der UdSSR und in der Emigration, In: Wolfgang Kasack (Hg.), Die Russische Orthodoxe Kirche in der Gegenwart (Arbeiten und Texte zur Slavistik 21), München 1979, S. 11f. [8] Georg Seide, Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland von der Gründung bis in die Gegenwart, Wiesbaden 1983, S. 2. [9] Vgl. Georg Seide, Verantwortung in der Diaspora, München 1989, S. 101ff. [10] Vgl. aaO., S. 25ff. [11] Vgl. im Folgenden aaO., S. 29ff. [12] AaO., S. 31. [13] Die Autonomie wurde vom ÖP jedoch schon 1924 wieder zurückgenommen und die zu der Zeit noch in der Türkei lebenden Russen mussten sich dem Phanar unterstellen, was den Metr. Anastasij zur Abreise zwang. [14] Vgl. aaO., S. 28f. [15] AaO., S. 29. [16] Vgl. im Folgenden aaO., S. 33ff. [17] Dieses Dekret (Ukas), das an die Metropoliten Evlogij und Antonij gerichtet war, ist nicht zu verwechseln mit der Deklaration vom 16. Juni 1923, die zu seiner Freilassung führte und in der er unterschrieben hatte, fortan „kein Feind“ der Sowjetmacht mehr zu sein. Auch diese „Loyalitätserklärung“ wurde zusammen mit dem sog. Testament des Patriarchen (verm. eine Fälschung und ohne Unterschrift) im Ausland angezweifelt. Vgl. aaO., S. 64f; Johannes Chrysostomus, Kirchengeschichte Rußlands der neuesten Zeit, Bd. 1, München 1965, S. 286f. [18] AaO., S. 44f. [19] Vgl. aaO., S. 45-48; Ders., Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland von der Gründung bis in die Gegenwart, Wiesbaden 1983, S. 130f; auf dem Bischofskonzil von 1923 wurde dann eine neue Verfassung (Položenie) verabschiedet und das Provisorium verständigt. [20] Vgl. Georg Seide, Geschichte… , S. 142-152. [21] Georg Seide, Verantwortung… , S. 37f. [22] Vgl. aaO., S. 41ff. [23] Vgl. zur Spaltung A. Kostrjukov, Mitropolit Evlogij i patriarschij ukaz ob uprasdnenii saruberžnogo VCU (Metr. Evlogij und das Dekret des Patriarchen über die Auflösung der ausländischen OKV, russ.), Žurnal Moskovskoj Patriarchii 12 (2006), 75-81. [24] Vgl. zur späteren Haltung Evlogijs: Hieromonach Savva (Tutunov), Cerkovno-pravovye osnowanija suščestvowanija „Parižskoj mitropolii“ v 1921-1946 godach, Žurnal Moskovskoj Patriarchii 12 (2006), 69ff. [25] Vgl. Georg Seide, Verantwortung in der Diaspora, München 1989, S. 60; vgl. Hieromonach Savva (Tutunov), Cerkovno-pravovye osnowanija suščestvowanija „Parižskoj mitropolii“ v 1921-1946 godach, Žurnal Moskovskoj Patriarchii 12 (2006), 68-74. [26] Vgl. aaO., S. 84f. [27] AaO., S. 60. [28] Den vollen Wortlaut und eine historische Einschätzung bei Johannes Chrysostomus, Kirchengeschichte Rußlands der neuesten Zeit, Bd. 2, München 1966, S. 155-164. [29] Georg Seide, aaO., S. 73. [30] Vgl. Georg Seide, aaO., S. 75f. [31] Zu den Zahlen: Michail Shkarovskij, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches gegenüber den orthodoxen Kirchen in Osteuropa (1939-1945), Münster 2004, S.11. [32] Vgl. aaO., S. 12f. [33] Für die Darlegung der Beweggründe vgl., aaO., S.13. [34] Georg Seide, Die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Diözese, München 2001, S. 120f. [35] Vgl. Georg Seide, Verantwortung... , S. 15. [36] Ebd.; über die Baugeschichte siehe S. 16-18. [37] Vgl. aaO., S. 14f. [38] AaO., S. 19f. [39] Vgl. aaO., S. 21f. [40] Vgl., aaO., S. 24. [41] AaO., S. 25. [42] Georg Seide, Verantwortung in der Diaspora, München 1989, S. 160f. [43] Vgl. aaO., S. 156f. [44] Für die Verluste der Auslandskirche nach dem Krieg vgl. aaO., S. 131-147. [45] Vgl. aaO., S. 153. [46] Die folgenden Statistiken sind entnommen: Georg Seide, Die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Diözese, München 2001, S. 106. [47] AaO., S. 122f. [48] Georg Seide, Verantwortung… , S. 147. [49] AaO., S. 171. [50] Georg Seide, Die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland unter besonderer Berücksichtigung… , S. 128. [51] AaO., S. 131. [52] Vgl. Georg Seide, Verantwortung… , S. 124ff.


Literatur

Johannes Chrysostomus, Kirchengeschichte Russlands in der neusten Zeit, Bd. 1-3, München, Salzburg 1965-1968

Käte Gaede, Die Russische Orthodoxe Kirche in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Köln 1985

A. Kostrjukov, Mitropolit Evlogij i patriarschij ukaz ob uprasdnenii saruberžnogo VCU (Metr. Evlogij und das Dekret des Patriarchen über die Auflösung der ausländischen OKV, russ.), Žurnal Moskovskoj Patriarchii 12 (2006), 75-81

Archimandrit Mark, Der Geistliche und seine Gemeinde. Zur Lage in der UdSSR und in der Emigration, In: Wolfgang Kasack (Hg.), Die Russische Orthodoxe Kirche in der Gegenwart (Arbeiten und Texte zur Slavistik 21), München 1979, S. 11-32

Hieromonach Savva (Tutunov), Cerkovno-pravovye osnowanija suščestvowanija „Parižskoj mitropolii“ v 1921-1946 godach, Žurnal Moskovskoj Patriarchii 12 (2006), 68-74

Georg Seide, Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland von der Gründung bis in die Gegenwart, Wiesbaden 1983

Ders., Die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Diözese, München 2001

Ders., Verantwortung in der Diaspora, München 1989

Michail Shkarovskij, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches gegenüber den orthodoxen Kirchen in Osteuropa (1939-1945), Münster 2004



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