"Wovon handelt das ‘Märchen vom Goldenen Ei‘?“ - mit dieser Frage begrüßte Erzpriester Ilya Limberger die Gäste der Weihnachtsfeier in der Stuttgarter Gemeinde zu Ehren des Hl. Nikolaj. "Es scheint das einfachste aller Märchen zu sein, und doch drückt es die Tragik des Menschen aus, der gemäß dem russischen Sprichwort ’Gottes Geschenk mit seinem Frühstücksei verwechselt’“.
Eine andere Art von Märchen, ein komplexes Theaterstück nach dem Vorbild der griechischen Tragödie, wurde dieses Jahr von den Kindern und Jugendlichen der Stuttgarter Gemeinde aufgeführt: „Ein gewöhnliches Wunder“ von Jewgeni Schwarz. Das Märchen war ein Geschenk des Autors an seine geliebte Frau. 12 Jahre lang arbeitete er daran und zwar nur dann, so schreibt er in seinen Tagebüchern, wenn er das Gefühl hatte, ausreichend rein zu sein.
In seinem Märchen porträtiert Schwarz sich selbst und seine Frau. Die Geschichte entsteht, entwickelt und verändert sich vor den Augen der Hauptprotagonisten – des Zauberers und seiner Frau. Sie beginnt nach dem Plan des Zauberers, doch mit der Zeit entwickelt sie sich in eine eigene Richtung. „So wird auch in unserem Stück“, erklärt Olga Rother, langjähriges Mitglied der Stuttgarter Gemeinde und Hauptregisseurin des Weihnachtsstücks, „der Zauberer das Märchen direkt auf der Bühne erschaffen.“
„In jedem entscheidenden Moment des Lebens hat der Mensch nur eine Chance. Und genau darum geht es in diesem Märchen.“
"Worum geht es in diesem Märchen? Und wie spiegelt sich das Thema in den Schicksalen der Figuren wider?“, fragt Vater Ilya weiter. „Wer dieses Märchen gelesen hat, kann nicht anders, als sich von seinem Charme, seiner Komik und seiner Tragik in den Bann ziehen zu lassen. Ich versichere Euch, dass es unmöglich ist, gleichgültig zu bleiben, wenn man diese Geschichte gelesen und nachempfunden hat. Es ist unmöglich, nicht in tiefes Nachdenken über das eigene Leben zu verfallen, über die Entscheidungen, die wir alle im Laufe unseres Lebens getroffen haben, die schicksalhaft wurden und unsere Existenz unwiderruflich verändert haben. Wenn ein Mensch einmal eine Entscheidung getroffen hat, kann er nicht mehr zum Gabelungspunkt zurückkehren, kann das Leben nicht noch einmal durchleben, kann keine neue Version seines Lebens auf der Grundlage anderer Entscheidungen schaffen. In jedem entscheidenden Moment des Lebens hat der Mensch nur eine einzige Chance. Und genau darum geht es in diesem Märchen".
"Ein gewöhnliches Wunder" war das längste und aufwändigste Märchen, das die Jugendlichen der Gemeinde je für eine Weihnachtsvorführung einstudiert hatten, die Aufführung dauerte über zwei Stunden. Sowohl die jüngsten Kinder der „Kirchenkrippe“ als auch die älteren Jugendlichen der Sonntagsschule waren daran beteiligt, darunter auch kürzlich aus der Ukraine Angekommene; ihnen hat die gemeinsame Arbeit auch geholfen, in die Gemeinde hineinzuwachsen und vielleicht auch Traumata der letzten Zeit ein Stück weit zu verarbeiten.
"Als wir im Sommer darüber nachdachten, welches Stück wir bei der Weihnachtsfeier aufführen wollten, verlangten die Kinder hartnäckig das „Gewöhnliche Wunder", erzählt Olga Rother. "Ich habe sie gewarnt, dass es eine komplizierte Geschichte ist und dass selbst diejenigen, die die russische Sprache nur mangelhaft beherrschen und mit Mühe lesen, lange Texte würden lernen müssen. Aber sie ließen sich nicht umstimmen und blieben bei Schwarz. Da musste ich gehorchen."
Es ist sehr interessant, die Kinder und Jugendlichen der Gemeinde zu beobachten, zu sehen, wie sie – auch durch das Prisma der Märchen – über ihr eigenes Leben nachdenken. Sie (und viele der Erwachsenen) haben große Disziplin bewiesen, um ihre Texte auswendig zu lernen, ihre Aussprache zu trainieren, ihre Kostüme zu nähen und ihr Lampenfieber zu überwinden. Doch neben dieser erstaunlichen Arbeit war ein Weiteres zu bemerken: wie sich die Jugendlichen mit Neugier mit sich selbst konfrontieren, wie sie beginnen, als unabhängige und selbstbewusste Persönlichkeiten zu kommunizieren, wie sie zu vollwertigen Mitgliedern des uralten Stamms der Christen werden.
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