Andrej Alexandrowitsch Kostrjukow
Professor für Geschichte,
Orthodoxe St. Tichon-Universität für Geisteswissenschaften, Moskau
Metropolit Anastasij und sein Vermächtnis
Zum 150. Jahrestag der Geburt von Metropolit Anastasij (Gribanovskij)
"Der Weiseste..."
So wurde Metropolit Anastasij (Gribanovskij), Erzbischof der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA), manchmal etwas ironisch, aber meist völlig aufrichtig genannt. Dieser Spitzname war nicht zufällig. Es genügt, einen Blick auf die kirchlichen Aktivitäten des Hierarchen zu werfen, sich ein wenig Zeit zu nehmen, seine Tagebücher, Briefe und Artikel zu lesen, um zu verstehen, wie recht seine Zeitgenossen hatten. Nur ein Beispiel: Metropolit Anastasij rettete zweimal, Mitte der 1940er und Mitte der 1960er Jahre, die Russische Kirche im Ausland vor anscheinend unausweichlichem Unheil. Und wie oft hat seine Weisheit die Auslandskirche vor unüberlegten Handlungen und radikalen Schritten bewahrt?
Das Leben dieses Hierarchen soll hier kurz dargestellt werden.
Metropolit Anastasij, als Laie Alexander Alexejewitsch Gribanowski, wurde am 6. August 1873, am Fest der Verklärung, im Dorf Bratki, Kreis Borisoglebsk, Provinz Tambov, geboren. Sein Großvater mütterlicherseits diente in der örtlichen Kirche, dann sein Vater. Alexander erhielt seine Ausbildung an der Theologischen Schule in Tambov und anschließend am Priesterseminar. Da der junge Mann glänzende Erfolge erzielte, wurde er auf öffentliche Kosten zum Studium an die Moskauer Theologische Akademie geschickt. Einer der prominentesten Geistlichen jener Zeit, Archimandrit Antonij (Chrapovickij), der später Metropolit und einer der Kandidaten für das Patriarchenamt werden sollte, leitete zu dieser Zeit diese Akademie. Damals konnte sich niemand vorstellen, dass das historische Russland in nur zwei Jahrzehnten aufhören würde zu existieren, dass die Russische Kirche in eine Zeit schrecklicher Verfolgung eintreten würde und dass die heutigen Lehrer und Schüler einer nach dem anderen ihren freien Teil leiten würden - die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland (ROKA).
Archimandrit Antonij (Chrapovickij), der für seine brillante Fähigkeit bekannt war, Herzen zu entflammen, führte viele Studenten der Akademie auf den Weg des Mönchtums. Alexander Gribanovskij war einer von ihnen. Er wurde ein Jahr nach seinem Abschluss an der Akademie im Jahr 1898 zum Mönch mit der Namensgebung zu Ehren des hl. Anastasij vom Sinai geweiht und bald in den Rang eines Hierodiakons und Priestermönchs erhoben. Der weitere Weg von Vater Anastasij war typisch für einen gelehrten Mönch jener Zeit. Zunächst war er Assistenzinspektor in seiner Heimatakademie, dann Inspektor des Theologischen Seminars Bethanien und schließlich Rektor des Theologischen Seminars Moskau.
1906 wurde Archimandrit Anastasij zum Bischof von Serpuchow und zum Bischofsvikar der Moskauer Diözese geweiht, mit dem Hl.-Danilow-Kloster als Residenz. Bischof Anastasij leitete die kirchlichen Kommissionen für die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Schlacht von Borodino und zum 300. Jahrestag der Romanow-Dynastie. Im Jahr 1915 wurde Bischof Anastasij auf den Kathedra-Sitz in Kishinev (Chisinau) berufen. Die orthodoxen Christen Bessarabiens - Moldawier, Ukrainer und Russen - unterstanden seiner Autorität. Hier wurde der Erzbischof von den revolutionären Umwälzungen erfasst.
Die Veränderungen im Land ermöglichten es der Russischen Kirche, ein Allrussisches Kirchenkonzil einzurichten, um die entstandenen Probleme zu lösen. Eine der wichtigsten Maßnahmen war die Wiederherstellung des Patriarchats. Im August 1917 reiste Erzbischof Anastasij nach Moskau, um am Konzil teilzunehmen, und leitete einige Monate später die Kommission zur Vorbereitung der Inthronisierung von Patriarch Tichon.
In der Zwischenzeit stand die Diözese Chisinau vor einer großen Herausforderung: 1918 wurde Bessarabien an Rumänien angegliedert und die dortigen Pfarreien wurden in die Rumänische Orthodoxe Kirche eingegliedert. Erzbischof Anastasij versuchte, den Prozess auf einen kanonischen Weg zu bringen. Er bestand darauf, dass die Verlegung der Diözese in eine andere Jurisdiktion ohne Zustimmung der Russischen Kirche unmöglich sei. Die Bemühungen des Erzhirten waren jedoch vergeblich - die rumänischen Kirchenbehörden verlangten, dass er sich unterwirft. Man bot ihm ein bequemes Leben als rumänischem Bischof und Mitglied der rumänischen Synode an. Der Erzhirte war nicht einverstanden, wider die Kanones zu handeln.[1] Da der Kontakt zu Patriarch Tichon abgebrochen war, trat Erzbischof Anastasij in die Oberste Kirchenverwaltung von Südrussland ein, die sich auf der Krim befand und seit 1920 vom Heiligen Dimitrij (Abaschidse) geleitet wurde. Alle Entscheidungen dieser Obersten Kirchenleitung wurden später von Patriarch Tichon als rechtmäßig anerkannt. Im Oktober 1920 ernannte die Südrussische Kirchenleitung Erzbischof Anastasij zu ihrem Vertreter beim Ökumenischen Patriarchat.
Das weitere Leben des Erzhirten war mit der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, der kirchlich-russischen Hauptstruktur im Ausland, verbunden. Natürlich bestand damals die Notwendigkeit einer vorübergehend unabhängigen Kirche, die von der Moskauer Obrigkeit unabhängig war. Es war notwendig, im Namen der russischen Orthodoxie die Wahrheit über die Gräueltaten und den klassenbedingten Völkermord in der Heimat, über die Zersörung der Kirchen und Klöster, über die neuen Märtyrer und Bekenner zu sagen. Die Kirche im Vaterland konnte diese Aufgabe nicht erfüllen.
Während seiner Zeit in Istanbul verteidigte Erzbischof Anastasij die Rechte der Russischen Kirche. Letztlich führte das zu seiner Ausweisung aus der Türkei. 1924 verlangte Patriarch Gregorios VII. von Konstantinopel, der die pro-sowjetischen Schismatiker, die «Erneuerer», de facto anerkannt hatte, dass die russischen Bischöfe in der Türkei darauf verzichteten, die kommunistischen Verbrechen anzuprangern und die Kommemoration des Patriarchen Tichon in den Gottesdiensten einzustellen. Erzbischof Anastasij, der nicht bereit war, sein Gewissen zu kompromittieren, war gezwungen, nach Jerusalem umzuziehen.
Die Tätigkeit des Erzhirten im Heiligen Land verdient besondere Erwähnung. Erzbischof Anastasij erwirkte bei der englischen Regierung Palästinas die Anerkennung der Rechte der russischen Mission, ordnete das monastische Leben in den Klöstern des Heiligen Landes und erwarb ein Grundstück in der Nähe des Jordan.[2] Mit dem Segen des Erzbischofs wurde das Kloster im Garten von Gethsemane und das Kloster in Bethanien gegründet.
Es war vor allem Erzbischof Anastasij zu verdanken, dass die Wirren in der orthodoxen Kirche von Jerusalem überwunden wurden. Um einen Aufstand zu verhindern, beschloss der Patriarch Damian (Kasatos) von Jerusalem, hierarchische Weihen an seinen Anhängern vorzunehmen. Erzbischof Anastasij erklärte sich bereit, mit dem kanonischen Primas der Kirche, an deren Weihen teilzunehmen.[3] Unter den neugeweihten Hierarchen war auch Bischof Timotheos (Themelis), der spätere Patriarch von Jerusalem.[4]
Im Mai 1925 weihten Patriarch Damian und Erzbischof Anastasij feierlich die russische Kirche an der Mamre-Eiche in Hebron. Bis heute ist das Hebron-Kloster das einzige christliche Kloster in der Stadt.
Als das Oberhaupt der ROKA, Metropolit Antonij (Chrapovickij), zurücktrat, stellte sich zunehmend die Frage, wer sein Nachfolger werden sollte. Die große Mehrheit der ausländischen Gläubigen war sich darüber im Klaren, dass es einfach keinen besseren Kandidaten als den "Weisesten" gab. Diese Frage wurde 1935 gelöst: In diesem Jahr fand eine Versammlung der russischen Diözesanbischöfe unter dem Vorsitz von Patriarch Varnava von Serbien statt. Damals wurde Erzbischof Anastasij von Seiner Heiligkeit Varnava in den Rang eines Metropoliten erhoben. Er blieb daraufhin in Jugoslawien als Assistent des Oberhaupts der ROKA, Metropolit Antonij. Nach dessen Tod im Jahr 1936 wurde Metropolit Anastasij einstimmig zum Vorsitzenden der Bischofssynode der ROKA gewählt. Es begann eine neue Periode seines Dienstes, die mit den schwersten Katastrophen in der Welt zusammenfiel. Stalins Terror mit der Zerstörung der Kirche in der Sowjetunion, dann der Zweite Weltkrieg, der den Metropoliten nach Belgrad führte, mit den Versuchen der Nazis, ihn zur Kollaboration mit dem Hitler-Regime zu bewegen - erfolglos.
Im Jahre 1944 zog Metropolit Anastasij nach München, um den einmarschierenden sowjetischen Truppen in Jugoslawien zu entkommen. Zu diesem Zeitpunkt war die Russische Kirche im Ausland als Ganzes bedroht. Viele Bischöfe und Priester wussten nicht, ob ihre Strukturen noch intakt waren oder ob der Metropolit überhaupt noch lebte. Es schien, die Russische Auslandskirche existiere nicht mehr. Der Klerus in der Emigration begann in dieser Zeit der Verwirrung und Verlorenheit, sich allmählich dem Moskauer Patriarchat zu unterstellen. Metropolit Anastasij gelang es jedoch, in die neutrale Schweiz zu reisen, mit den Kontakt mit den Bischöfen herzustellen und so das Verschwinden der Auslandskirche aufzuhalten. Ihre Existenz war auch weiterhin nötig, denn mit den sich zurückziehenden deutschen Armeen zogen auch viele orthodoxe Christen - Russen, Ukrainer und Weißrussen - in den Westen. Darüber hinaus gab es bereits viele andere Völker der Welt, die orthodoxe Christen geworden waren und sich vornehmlich der russischen Tradition anschlossen. Sie wollten sich in der Regel keiner anderen Jurisdiktion anschließen. Die Mission, die einst von den Gründern der Auslandskirche übernommen worden war, musste fortgesetzt werden. 1946 berief Metropolit Anastasij ein Bischofskonzil in München ein, in dessen Folge sich das Leben der Russischen Auslandskirche wieder normalisierte. 1950 zog Metropolit Anastasij nach New York, wohin auch das Verwaltungszentrum der Auslandskirche verlegt wurde.
Aber die Probleme waren nicht vorbei. Es galt, auf den sowjetischen Terror der Nachkriegszeit und auf die extremen Strömungen des Ökumenismus in der Weltorthodoxie zu reagieren. Es gab darüber hinaus auch interne Umwälzungen in der ROKA, darunter die "Laienrevolte" in San Francisco, die traurige berühmtheit erlangt hat, und eine Reihe ähnlicher "Revolten" in der gesamten russischen Diaspora. Auch die Bischöfe der Russischen Auslandskirche teilten sich in "Parteien" auf. Manche meinten Anfang der 1960er Jahre, eine Spaltung der Kirche stünde unmittelbar bevor.[5] In den frühen 1960er Jahren waren die Erzphirten in der Tat in der Frage der Nachfolge von Metropolit Anastasij als Oberhaupt der Russischen Kirche im Ausland gespalten. Die einen waren für den Erzbischof Johannes (Maximowitsch), die anderen für Erzbischof Nikon (Rklitski), und die beiden Seiten wollten einander nicht nachgeben. Doch Metropolit Anastasij konnte, gewissermaßen schon in den Sarg hinabsteigend, noch die Wahl seines Nachfolgers, Metropolit Philaret (Voznesensky) sicherstellen — der Weihe nach des jüngsten Bischofs in der ROKA! Die Kandidatur dieses Hierarchen hatte die Gegner versöhnt. Danach wurde es für den Oberhirten möglich, beruhigt in den Ruhestand zu gehen, was der 90-jährige Metropolit Anastasij im gleichen Jahr 1964 tat.
Die Heiligsprechung des in Russland und darüber hinaus verehrten Gerechten Johannes von Kronstadt war ebenfalls ein wichtiges Ereignis in diesem Jahr. Die Glorifizierung dieses Heiligen war seit Anfang der 1950er Jahre in Vorbereitung, doch Metropolit Anastasij zog es vor zu warten, da er auf Veränderungen in seinem Heimatland nach dem Tod Stalins hoffte. Der Erzhirte hoffte damals, die Kirche in Russland würde nun freier sein, und es könnte möglich werden, Vater Johannes gemeinsam mit ihr und den anderen Ortskirchen heiligzusprechen.[6] Die Ereignisse in der Heimat gaben jedoch weiterhin keinen Anlass zu Optimismus. Anfang der 1960er Jahre, vor dem Hintergrund der ökumenischen Aktivitäten des Moskauer Patriarchats und der zunehmenden Feindseligkeit gegenüber der Russischen Kirche im Ausland, zögerte diese die Verherrlichung von Vater Johannes nicht weiter hinaus.
"Es hält sich die Überzeugung", schrieb Archimandrit Konstantin (Zaitsev), "die, wie man sagt, auch in Sowjetrussland verbreitet ist, dass die Verherrlichung von Vater Johannes von Kronstadt das Ende des Sowjetismus und die Rückkehr Russlands auf seinen historischen Weg des göttlichen Heils bedeuten wird".[7] Tatsächlich wurde Chruschtschow abgesetzt keine sechs Monate nach der Verherrlichung von Vater Johannes durch die Auslandskirche, und seine brutale antikirchliche Politik wurde weitgehend eingedämmt. Und ein Jahr nach der Heiligsprechung von Vater Johannes durch das Moskauer Patriarchat (1990) verschwand die Sowjetunion.
Die Heiligsprechung des gerechten Johannes ebnete den Weg für die Verherrlichung im russischen Exil weiterer Heiliger - des ehrwürdigen Herman von Alaska, der seligen Xenia von Petersburg sowie der Neumärtyrer und Bekenner Russlands u.s.w. Diese folgten zwar nach dem gesegneten Ableben von Metropolit Anastasij, sollten aber als Früchte seines Werkes gesehen werden. Ein leuchtendes Beispiel solchen Brückenschlags in die Zukunft, oder anders gesagt der Frucht seines schöpferischen Geistes, ist der Kanon des Gottesdienstes für die Neumärtyrer und Bekenner Russlands (1981), der von seinen ersten Worten an unmittelbare Zitate aus der «Lobeshymne für die neuen priesterlichen Märtyrer der Russischen Kirche»[8] des Metropoliten Anastasij enthält, ähnlich dem wie die altehrwürdigen Gottesdienste von Weihnachten und Pfingsten aus den Predigten des hl. Gregor des Theologen schöpfen.
Das Herz des Metropoliten hörte auf zu schlagen am 22. Mai 1965, dem Festtag des Heiligen Nikolaus. Der Hierarch wurde in der Krypta des Klosters der Heiligen Dreifaltigkeit in Jordanville beigesetzt.
Ein würdiges Leben eines wunderbaren Bischofs, eines Asketen, eines wahren russischen Patrioten, eines begabten Administrators... Aber, wie schon angedeutet, gibt auch ein reiches geistiges Erbe dieses Erzhirten.
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Metropolit Anastasijs Erbe bietet Raum für zahlreiche Artikel und Studien. Am bekanntesten ist das geistliche Tagebuch von Metropolit Anastasij, Gespräche mit dem eigenen Herzen. Der Titel dieses von tiefer Weisheit geprägten Buches verweist auf den Grundgedanken des Heiligen Isaak des Syrers, dass der Weg in das eigene Innere und der Weg zu Gott ein und derselbe Weg sind.[9] Innere Sammlung, Andacht, Demut – das sind die Merkmale des Hierarchen, der uns dieses bemerkenswerte Werk hinterlassen hat. Doch nicht nur tiefe Spiritualität zeichnet dieses Tagebuch aus – die Aufzeichnungen zeigen den Oberhirten als einen Mann von großer Gelehrsamkeit, der mit den Werken verschiedenster Schriftsteller, Philosophen und Politiker vertraut war.
Den Zeitgenossen ist Metropolit Anastasij nicht nur als weiser Erzhirte in Erinnerung geblieben, sondern auch als ein zurückhaltender Mensch mit ausgeprägter Selbstbeherrschung. Dies war keineswegs Pose oder Maske. Der Hierarch war tatsächlich schweigsam, war gewiss, dass das wahrhaft aufrichtige und umfassende Wort nur dann geboren werden kann, wenn es erlitten, ausgeduldet ist. Dem Prediger wird geglaubt, wenn sein Wort aus dem Herzen kommt.
«Wer es nicht versteht eine Wache an seine Lippen zu stellen, - schrieb Metropolit Anastasij, – der vergeudet neben dem Wort auch den Vorrat innerer geistiger Energie. Nicht umsonst vergleicht ein Gottgeweihter den Wortreichen mit einer Sauna bei offenen Türen, durch die der ganze Dampf entweicht. Die Zurückhaltung in den Worten hilft uns, die innere Hitze zu bewahren, die im Bedarfsfall mit Kraft nach Außen strömt und unsere Rede in einen feurigen Strom verwandelt».
Hier auch noch weitere Worte des Hierarchen: "Viele Worte sind fast immer ein Anzeichen übereilter Darlegung oder Unbedachtheit des Themas. Manchmal muss man sich sehr anstrengen, um seinen Gedanken zu komprimieren, so dass er wie ein nahrhafter Extrakt Vieles in Wenigem ergibt".[10]
Daher ist es nicht verwunderlich, dass die sorgfältig ausgearbeiteten Predigten von Metropolit Anastasij seine Zuhörer beeindruckten, einzigartig und unnachahmbar waren. Beeindruckend war auch die bloße äußere Erscheinung des Erzbischofs. Sie allein schon flößte Respekt und Ehrfurcht ein. Archimandrit Kiprian (Kern) erinnerte sich: "Es ist schwer, sich eine stilvollere und fotogenere Person als Erzbischof Anastasij vorzustellen. Sein Auftreten, seine Stimme mit den verblassenden Satzenden, seine Intonation beim Gottesdienst kann niemand vergessen, der ihn je gesehen oder gehört hat".[11]
Neben der spirituellen Erfahrung gab es auch ein ideologisches Erbe. Der Hierarch war (mit Patriarch Alexij I.) einer von zwei Bischöfen vorrevolutionärer Weihe, die nicht nur den Terror Stalins, sondern auch die Verfolgung der Kirche durch Chruschtschow überlebt haben. Im Exil lebte er in der Türkei, im Heiligen Land, in Jugoslawien, in Deutschland und in den Vereinigten Staaten, wo seine irdische Reise endete. Der Erzhirte konnte seine Erfahrungen vergleichen und analysieren, was in seinen Predigten, Episteln und Tagebucheinträgen entsprechend zum Ausdruck kam.
Der Oberhirte lebte mit der Hoffnung auf die Wiederherstellung des historischen Russlands und mit dem Gedanken, das russische Volk werde die Sünde des Glaubensabfalls bereuen. Das geistige Potenzial von Metropolit Anastasij selbst entfaltete sich während seines ganzen Lebens und musste sich in der Ideologie der von ihm geleiteten Russischen Auslandskirche widerspiegeln. Jetzt ist die Zeit, da diese Erfahrung auf panorthodoxer Ebene gefragt ist. An einem bestimmten Punkt wurde die ROKA zum Vorkämpfer des Antikommunismus.
Es ist kein Zufall, dass das Zweite All-Diaspora-Konzil (1938) an Metropolit Anastasij appellierte, sich um die Frage der nationalen Einheit zu kümmern. Auf diesem Konzil versuchte die russische Diaspora eine Antwort auf die Frage zu geben, warum Gott Russland eine so schreckliche Prüfung zugelassen hatte. "Weil wir", so hieß es in der Botschaft des Konzils, "tief gefallen und verdorben sind" (Hos 9:10), weil wir die hohe Berufung vergessen haben, die Gott uns erzeigt hat, und nicht standhaft waren in der Wahrheit und des rechten Lebens, welche uns deutlicher als jeder anderen Nation auf Erden offenbart worden sind. Die Sünde des russischen Volkes war, dass es sich von den kommunistischen Versprechungen eines irdischen Paradieses täuschen ließ. Gleichzeitig war das Konzil gewiss, dass die Befreiung früher oder später kommen würde, denn es war nicht umsonst, dass "das Blut unserer Märtyrer, angeführt vom Märtyrer-Zaren" vergossen worden war. Allerdings gab es auch eine Bedingung: Das russische Volk muss in ihrem Geiste handeln und zu einer orthodox-nationalen Selbstbestimmung kommen.
Die Aufgabe der Emigration, so das Konzil, sei die Bewahrung der Orthodoxie, damit der Glaube später an ein wiederbelebtes Russland weitergegeben werden könne.[12]
Im Exil dachte Metropolit Anastasij ständig darüber nach, warum die Revolution und die schreckliche blutige Diktatur ausgerechnet in Russland stattgefunden haben. Er betrachtete dieses Phänomen als eines der komplexesten der Geschichte. Der Erzhirte betonte, dass die Revolution in erster Linie eine geistliche Versuchung für das russische Volk war und sah in ihr die Versuchungen aufspürte, denen Christus in der Wüste ausgesetzt war. Erstens die Versuchung des Brotes, "des Reiches der allgemeinen Sättigung", für das der Mensch seine geistigen Ideale aufgeben muss. Zweitens ist es die Versuchung, in den Abgrund des "Reiches der Freiheit" zu springen, mit dem Russland die Welt überraschen wollte. Drittens geht es um eine Abkehr von Gott (gleichbedeutend mit dem Niederfallen in Anbetung Satans) zugleich mit dem Versuch, die ganze Welt der gottlosen Ideologie zu unterwerfen.[13]
Der Erzhirte war überzeugt, dass die Revolution in Russland im allertiefsten Bösen wurzelte; sie war lange in den Köpfen gereift und fand ihre Erfüllung im Moment der Schwächung des staatlichen Organismus. Und viele hatten an ihrer Vorbereitung mitgewirkt - Westler, die die russische politische Ordnung gnadenlos kritisierten, Slawophile, die von Russland als dem Licht für die ganze Welt sprachen, das einfache Volk, das sich nach einem ausgelassenen Fest sehnte, und die Intelligenzia mit ihrer geistigen Anarchie, ihrer Dekadenz und ihrem Nihilismus. «Diese Mischung, – so der Metropolit, – erwies sich als vom Sauerteig des uns fremden materialistischen Marxismus durchwirkt und führte zu einer so unerwarteten und heftigen Gärung, dass die Sonne in Finsternis und der Mond in Blut sich wandelten, überall Verwirrung und Schrecken gestiftet, und Russland zu einer schrecklichen Schande für die ganze Welt wurde». Obwohl Metropolit Anastasij das russische Volk liebte und es als vom Bolschewismus versklavt ansah, sprach er es doch nicht von der Schuld an den Erschütterungen frei. Vladyka wies darauf hin, dass Gott die Völker auf verschiedene Weise zur Vernunft bringt, sei es durch Naturkatastrophen oder Überkommen fremder Völker. Diese Katastrophen kommen jedoch plötzlich und nicht aus unserem Willen heraus. Aber eine Revolution kann nicht stattfinden ohne den Willen des Volkes selbst. Auch für Europa ist der Erzhirte nicht optimistisch, da er auch dieses nach Russland als im Untergang befindlich ansieht: "Nur das Christentum, das die Welt während des Niedergangs der antiken Kultur vor dem Untergang bewahrt hat, kann einer geistig altersschwach gewordenen Menschheit wieder neues Leben einhauchen".[14]
Die Macht der Bolschewiken betrachtete Metropolit Anastasij als völlig gesetzlos. Metropolit Anastasij wandte die Worte des Apostels: "Es gibt keine Macht, die nicht von Gott ist" (Röm 13:1) nicht auf die kommunistische Obrigkeit an. Unter Berufung auf den hl. Gregor den Theologen und den hl. Johannes Chrysostomus wies der Erzbischof darauf hin, dass sich der Römerbrief auf das Prinzip des Regierens bezieht, nicht jedoch auf jeden Machthaber. Es ist kein Zufall, dass der Herr selbst seinem Volk durch den Propheten sagte: "Israel verwarf das Gute: der Feind wird es verfolgen. Sie haben Könige eingesetzt ohne mein Zutun, sie haben Fürsten aufgestellt, aber ohne dass ich wusste" (Hos 8:3-4). «Zu behaupten, die bolschewistische Regierung sei eine "Macht von Gott", – so Metropolit Anastasij in seinem Weihnachtsbrief von 1949, – bedeutet eine offene Blasphemie wider den Allmächtigen, denn dann wäre Er selbst verantwortlich für alle Verbrechen, die von den Sowjets nicht nur in Russland, sondern in der ganzen Welt begangen werden, ja für die Gottlosigkeit selbst, die sie überall aufzudrängen versuchen, wohin ihre Hände nur reichen».[15]
Metropolit Anastasij wich nie von seiner Position des konsequenten Widerstands gegen die politische Ordnung, die in seinem Heimatland errichtet worden war, zurück. Vor dem Hintergrund der ständigen sowjetischen Propaganda gegen das alte Russland und den letzten Zaren arbeitete die Russische Kirche im Ausland insgesamt und Metropolit Anastasij im Besonderen unermüdlich an der Vergegenwärtigung, dass das Geschehen im Heimatland nach 1917 eine Kette von Gräueltaten ist. In der Russischen Auslandskirche wurde das Buch von Protopresbyter Michael Pol’sky «Die Neuen Märtyrer Russlands»[16] veröffentlicht, das in der ganzen Welt große Resonanz fand und an die beispiellose Verfolgung der Kirche erinnerte. Einen besonderen Platz in der Ideologie der Russischen Kirche im Ausland nahm die Zarenfamilie ein. Während die Kommunisten den Zaren als "Nikolaus den Blutigen" bezeichneten und ihn mit allen möglichen Verleumdungen überzogen, wurde die Russische Auslandskirche angewiesen, an seinem Geburtstag, seinem Namenstag und dem Tag seiner verbrecherischen Ermordung feierliche Liturgien und Gedenkgottesdienste zu zelebrieren.[17]
Metropolit Anastasij sagte unverblümt, dass der Mord an den Zaren-Märtyrern ein Verbrechen sei, das nicht ungestraft bleiben dürfe. «Die Ermordung des von allen verlassenen, wehrlosen russischen Monarchen mit seiner Frau und seinen Kindern im Jugendalter, – sagte Metropolit Anastasij, – wird stets als schwerer Vorwurf vor dem Gewissen der Welt stehen.[18]
Unter Metropolit Anastasij wurde der 17. Juli zum "Tag der russischen Trauer" erhoben.[19] Im Jahr 1956 beschloss das Bischofskonzil der ROKA, den 17. Juli zu einem Tag des allgemeinen Fastens und der Buße zu erklären. Nach dem Totengedenken wurde ein besonderes Bußgebet vorgeschrieben, das auf dem biblischen "Gebet der drei Jünglinge zu Babylon" beruhte.[20]
Gleichzeitig legten Metropolit Anastasij und die Russische Kirche im Ausland Zeugnis von der Verlogenheit der im Heimatland etablierten Ideologie abgelegt.
Die vorübergehende Aussetzung der Verfolgung zwischen 1943 und 1947 hat Metropolit Anastasij nicht in die Irre geführt. Nach Ansicht des Hierarchen war die relative Freiheit für die Kirche lediglich ein politischer Trick des stalinistischen Staates, der bei der ersten Gelegenheit zu seinem früheren Kampf gegen Gott zurückkehren würde. Der Erzhirte behielt Recht: von 1948 an wurde die Kirchenverfolgung wieder aufgenommen. Zwischen 1948 und 1953 wurden mehr als tausend Kirchen geschlossen und einige zerstört. Die Verhaftungen von Priestern und Laien wurden wieder aufgenommen, die in der Regel zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Etwas von dieser Gesetzlosigkeit zu verbergen, zu verschweigen, zu tolerieren, war nach Meinung von Metropolit Anastasij ebenso unzulässig, wie Halbherzigkeit gegenüber der totalitären Ideologie. «Versöhnung mit dem Kommunismus, – schrieb der Metropolit, – und sei es auch nur teilweise, ist unmöglich, ohne einen Teil seines Giftes ins eigene Herz aufzunehmen. In einer Zeit, in der überall die Auseinandersetzung mit diesem Übel geführt wird, ist jeder, der nicht ihm entgegen lebt, bereits dafür».[21] Im Jahr 1953 erklärte das Bischofskonzil der ROKA Stalin zum «größten Verfolger der Kirche und Pflanzer des gottlosen Kommunismus".[22]
Die Anprangerung des unmenschlichen Systems wurde 1959 vom Bischofskonzil der ROKA fortgesetzt: «Beim Versuch, das Bild und die Ähnlichkeit Gottes im Menschen zu zerstören, – so das Konzil in seinem Sendschreiben, – kann der Kommunismus an dessen Stelle nichts Positives bieten. Der Kommunismus stellt der Botschaft des Evangeliums von Liebe und Frieden einen gewalttätigen Klassenkampf gegenüber, der von niederen Leidenschaften inspiriert ist. Die Lehre des Kommunismus führt seine Anhänger zu einem ungezügelten Hass, der sich in der physischen Vernichtung nicht nur von Menschen ausdrückt, die ihre Lehre ablehnen und "Klassenfeinde" genannt werden, sondern auch von Kommunisten selbst in den sogenannten Säuberungen, die sie von Zeit zu Zeit in ihren eigenen Reihen durchführen <...> Ihr Reich auf Erden ist selbst eine Art Vorläufer der Hölle, in der alle – die Unterdrückten und die Unterdrücker – leiden und gequält werden, denn der Dienst am Bösen bringt niemandem wahre Freude».[23]
Es ist klar, dass die kompromisslose Haltung der Russischen Auslandskirche nicht zur Einheit mit der Kirche im Vaterland beitragen konnte. Da das Moskauer Patriarchat gezwungen war, unter den härtesten Bedingungen des militanten Atheismus zu überleben, konnte es kein Zeugnis für die Neumärtyrer ablegen und den Atheismus nicht anprangern. Darüber hinaus konnte man aus dem Munde seiner Funktionäre sowohl die Leugnung der Verfolgung und die direkte Unterstützung des gottlosen Staates hören[24], als auch die Erklärung, der sowjetische Atheismus stehe nicht im Widerspruch zur christlichen Lehre.[25] Ob solche Aussagen nun aufrichtig oder unaufrichtig waren, lässt sich oft unmöglich sagen. Aber solche Erklärungen trugen nicht zur Einheit bei. Die besten Vertreter der Russischen Kirche im Ausland, wie der heilige Johannes (Maximowitsch), machten keinen Hehl aus ihrer Gewissheit, dass die von Christus gebotene Einheit früher oder später wieder hergestellt werden würde, doch dies blieb in jenen Tagen ein unerreichbarer Traum.
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Es wäre verwunderlich, wenn Metropolit Anastasijs antikommunistische Haltung von seinen ideologischen Gegnern unbemerkt geblieben wäre – kein anderer Vorsteher der ROKA wurde mit einer solchen Flut von Verleumdungen überzogen wie Metropolit Anastasij.
An erster Stelle in diesem Strom stand die Anschuldigung, Hitler zu unterstützen und für seinen Sieg zu beten.[26] Hier wetteiferten die sowjetischen Ideologen untereinander in der Lästersucht, obwohl alle mangels Beweisen gezwungen waren, ihre Verleumdungen auf der Grundlage von zwei oder drei indirekten Fakten zu erfinden.
Tatsächlich betete in der ROKA nur ihre Diözese in Berlin in den Gottesdiensten für die deutsche Obrigkeit.[27]Aber auch die anderen orthodoxen Jurisdiktionen in Deutschland beteten für die Staatsmacht, darunter die Gemeinde des Moskauer Patriarchats.
Ein weiterer Anlass für Verleumdungen war die Dankesrede von Metropolit Anastasij bei der Einweihung der neuerbauten Auferstehungskathedrale in Berlin.[28] Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie am 12. Juni 1938 gehalten wurde, also mehr als ein Jahr vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und vier Jahre vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion.
Die damalige Dankbarkeitsäußerung hat zu dem damaligen Zeitpunkt keine ernsthaften Vorwürfe hervorgerufen, im Gegenteil, sie wurde bis auf sehr wenige Ausnahmen ruhig aufgenommen. Der Patriarch von Antiochien, Alexander III., und das Oberhaupt der Kirche von Griechenland, Erzbischof Chrysostomus, brachten in ihren Briefen an Metropolit Anastasij ihre Freude über die Hilfe der "großen deutschen Regierung" zum Ausdruck.[29] An der Weihe nahmen Vertreter der serbischen und bulgarischen Kirche, Vertreter der deutschen, jugoslawischen, bulgarischen und rumänischen Regierung sowie Vertreter der Evangelischen Kirche Deutschlands teil. Die Worte des Oberhaupts der ROKA wurden als normal angesehen, ist doch Dankbarkeit für Hilfe keine Sünde. Zudem, obwohl die Weitsichtigeren bereits begriffen hatten, wohin Hitlers Regime Deutschland führen würde, erschien es den meisten noch nicht als kriminell, im Gegenteil, die Euphorie darüber, dass Hitler "Deutschland von den Knien erhebt", war groß. Das Grauen, das der Nationalsozialismus über die Welt bringt, drang erst mit der «Kristallnacht», dem Judenpogrom vom 9. auf den 10. November 1938, ins Bewusstsein.
Aber selbst nach der Kristallnacht waren sowohl die Westmächte als auch Stalin mit Hitler befreundet und schlossen Verträge, wobei keine einzige Konfession, weder die Protestanten noch die Katholiken, noch das Moskauer Patriarchat, sich auch nur mit einem Wort gegen die guten Beziehungen ihrer Regierungen zum Führer wandte. Nicht von ungefähr schrieb Erzbischof Anthony (Sinkevich) von Los Angeles später: Wenn die Moskauer Kirchenbehörden die deutsche Regierung als so verbrecherisch ansahen, warum verurteilten sie dann nicht die sowjetische Regierung für ihr Bündnis mit Hitler im Jahr 1939?[30]
Doch, bei all dem, ließen sich ja weder Metropolit Anastasij noch die Russische Auslandskirche vom Hitlerismus und anderen totalitären Systemen täuschen. «Der Faschismus, – sagte der Erzhirte bei der Hl.-Wladimir-Feier in Belgrad (1936), – ist eine Art von Staatsstruktur, die in keiner Weise unser Ideal sein kann. Er beruht auf den Prinzipien des Zwanges, der sich bis auf die Ideologie vom Menschen ausweitet. Jedoch gibt es außerhalb der Freiheit keine ethische Leistung und keine moralische Verantwortung. Ohne die Letzteren aber stellen wir uns den russisch-orthodoxen Staat nicht vor.»[31]
Aus den Vorträgen beim Zweiten All-Diaspora-Konzil (1938) geht eindeutig eine Ablehnung des Nationalsozialismus hervor.[32]
Umgekehrt waren Hitlers Deutschland die Ideen der Russischen Kirche im Ausland fremd. Während des gesamten Zweiten Weltkriegs erlitt die Kirche Schikanen seitens der Regierung. Nach der Besetzung Jugoslawiens durchsuchte die Gestapo die Wohnung des Metropoliten Anastasij in Belgrad, und die Unterlagen der Bischofssynode wurden beschlagnahmt.[33] Eine Zeit lang waren die Kirchen der Auslandskirche in Leipzig und Dresden von der Schließung bedroht. Diese Kirchen wurden nur deshalb nicht geschlossen, weil es gelungen war, die Befürchtung zu aktivieren, dass sich dadurch die Beziehungen speziell zu den deutschen Verbündeten Rumänien und Bulgarien sowie generell zu den Ländern in Südosteuropa verschlechtern würden.[34] Auch die Bildungsarbeit der Russischen Auslandskirche wurde behindert, bis Mitte 1942 war die Einfuhr von Literatur, die von der ROKA herausgegeben wurde, in das Reich, nach Böhmen und Mähren, Belgien, in die Niederlande und nach Serbien verboten. In den folgenden Jahren durfte die Literatur in diesen Gebieten nur noch in Kirchen oder im Abonnement verteilt werden.[35]
Von Seiten der Russischen Auslandskirche gab es Versuche, Kriegsgefangenen und aus den Ostgebieten eingeführten Zwangsarbeitern (Ostarbeitern) zu helfen. Die nationalsozialistische Führung vereitelte diese Aktivitäten jedoch auf jede erdenkliche Weise. Zwar konnte Metropolit Seraphim (Lade) von Berlin 15 Reisepriester zur Unterstützung der Lager ernennen, doch war ihre Arbeit in der Praxis von den örtlichen Behörden abhängig, die oft die seelsorgerische Arbeit in den Lagern behinderten oder vereitelten.[36]
Die Serbische Kirche, die während des Zweiten Weltkriegs den großen Kelch des Leidens trinken muste, machte nach Kriegsende keinerlei Andeutung über eine Nähe von Metropolit Anastasij zu den Besatzern. Patriarch Gavrilo von Serbien verteidigte das Oberhaupt der Russischen Auslandskirche: "Metropolit Anastasij hat sich unter den Deutschen mit großer Weisheit und Taktgefühl verhalten, war den Serben gegenüber immer loyal, wurde mehrmals durchsucht und genoss nicht das Vertrauen der Deutschen".[37]
In den verschiedenen Ländern, die während des Krieges den Kontakt zu Metropolit Anastasij verloren hatten, sahen die Bischöfe und Pastoren den Krieg unterschiedlich. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass sich die Geistlichen in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien für Hitler ausgesprochen hätten. Was die offizielle Haltung der Russischen Orthodoxen Kirche während des Zweiten Weltkriegs betrifft, so enthielten ihre Dokumente und Anordnungen keine Unterstützung für das Naziregime. Von Metropolit Anastasij selbst verlangten die Nazis, dass er sich mit einem Aufruf an das russische Volk wendet, sich auf die Seite Deutschlands zu stellen. Der Oberhirte weigerte sich jedoch, dies zu tun.[38] Es gab auch keine Anweisung, für den Sieg Hitlers zu beten, im Gegenteil, solche Gebete waren verboten. In den Kirchen der Russischen Kirche im Ausland sollte nur für die Rettung Russlands gebetet werden (s. oben Anm. 26. - Red.).
Die Sache der Nazis, so der Hierarch, sei als irreligiös und unmoralisch zum Untergang verurteilt. "Diese gewaltige Lektion", so der Oberhirte, der auch das Schicksal der Sowjetunion vorhersagte, "war für die gesamte moderne Menschheit notwendig, damit alle erkennen, dass derjenige, der ein Leben ohne Gott aufbauen will, sein Gebäude auf Sand baut und es von vornherein zum völligen Zusammenbruch verdammt"[39].
Ein weiterer Vorwurf, den die sowjetische Propaganda gegen Metropolit Anastasij erhob, war seine angebliche Forderung nach einem Atombombenabwurf auf Russland.[40]
Grundlage für die Verleumdung war seine Osterbotschaft von 1948, in der er von einem von Menschen gemachten und zerstörerischen Höllenfeuer sprach, das die menschlichen Laster verbrennt. Der Erzhirte sagte, durchaus im Geiste der Kirchenväter, dass selbst diese Explosionen für das russische Volk nicht so gefährlich seien wie sein geistig-moralischer Verfall.[41] Diese Worte kann man nur dann als Aufruf zu einem Atomkrieg interpretieren, wenn man einen politischen Auftrag zu einer solchen Auslegung bekommen hat.
Die Episteln und Schriften von Metropolit Anastasij helfen uns zu verstehen, was er meinte. Der Gedanke, dass Gott die Menschheit für ihre Sünden mit Katastrophen bestraft, lässt sich in vielen Schriften des Hierarchen nachverfolgen, und diese Ansicht steht in vollem Einklang mit biblischen und kirchenväterlichen Lehren. Dass Katastrophen und Not von Menschen verursacht werden können und dass auch die Gerechten unter den Sündern umkommen, ist ebenfalls kein neuer Gedanke. Doch die Propheten, die von blutigen Kriegen als Mittel zur Belehrung der Menschheit sprachen, wurden und werden nicht beschuldigt, Kriege zu schüren.
In mehreren seiner Sendschreiben rief Metropolit Anastasij seine Gläubigen ausdrücklich auf, den Herrn darum anzuflehen, dass die Geißel des kommenden Atomkriegs (der bis in die 1960er Jahre unvermeidlich zu sein schien) am russischen Volk vorbeigeht, das während der jahrzehntelangen totalitären Herrschaft bereits unermessliches Leid erlitten hatte.[42] Der Hierarch litt selbst sehr darunter, dass die Welt Russland als den Pfeiler und die Quelle des Kommunismus betrachtete, während es in Wirklichkeit ein Opfer dieser für die Welt zerstörerischen Ideologie war.
In all den Jahren seines Exils sehnte Metropolit Anastasij die Befreiung seiner Heimat herbei, träumte von einer Rückkehr nach Russland. Während seines irdischen Lebens wurden diese Wünsche nicht erfüllt, das Ende der "babylonischen Gefangenschaft" erlebte er nicht.
Aber das Vermächtnis des Hierarchen bleibt – seine Sendschreiben, Schriften, Forschungen. Und es ist erfreulich, dass sie immer mehr nachgefragt werden.
[1] Dimitrij (im Mönchsschema Antonij, Abaschidse) wurde 2011 von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche heiliggesprochen. [2] Die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland: 1918 - 1968. Т. 1-2 / Hrsg. A. Sollogub. - New York. 1968. Т. 1. S. 419, 452. [russ.] [3] Siehe: Talberg N. Heiliges Russland im Heiligen Land // Pravoslavnaya Rus’ 1958. № 14. S. 6; Hl. Johannes (Maximowitsch) und die russische Kirche im Ausland. Jordanville. 1996. S. 30. [russ.] [4] Die Einweihung des russischen Gotteshauses in Hebron [russ.] // Cerkovnyje vedomosti. 1926. № 3 - 4. S. 11. [5] Archimandrit Mstislav (Volonsevič) - später Erzbischof im Moskauer Patriarchat — schrieb z.B. in einem Memorandum 1954, die Russische Kirche im Ausland wúrde nach dem Tod von Metropolit Anastasij und Erzbischof Vitalij (Maksimenko) "mit Sicherheit zerfallen" (Einzelheiten siehe: Kostriukov A. Die Russische Kirche im Ausland 1939-1964. Verwaltungsstruktur und Beziehungen zur Kirche im Vaterland. М. 2015. S. 457 [russ.]). [6] Einzelheiten siehe: Euthymius (Logvinov), Hierom. Über die Haltung des Metropoliten Anastasij (Gribanovskij) zur Verherrlichung des Heiligen Johannes von Kronstadt als Heiligen durch die Russische Kirche im Ausland // 15. Jährliche Theologische Konferenz der Orthodoxen Svyato-Tikhonovsky Universität für Geisteswissenschaften. Т. 1. М. 2005. S. 305-311. [russ.] - Erzpr. Nikolai Artemoff (München, Deutschland). Die Verehrung und Verherrlichung des hl. Ger. Johannes von Kronstadt im Ausland. 20. Jährliche Theologische Konferenz der Orthodoxen Svyato-Tikhonovsky Universität für Geisteswissenschaften. T. 1 – М.: Изд-во ПСТГУ, 2010. S. 92-104. [russ.] [7] Konstantin, Archim: Vater Johannes von Kronstadt als ein "Zeichen Gottes" // Pravoslavnaya Rus’ 1958. № 24. S. 3. [russ.] [8] Sammelband ausgewählter Werke des höchstgeweihten Metropoliten Fnastasij, des Ersthierarchen der Russischen Auslandskirche, zum 50. Jubiläum des Priesterdienstes, Jordanville 1948, «Lobeshymne an die neuen priesterlichen Märtyrer der Russischen Kirche», S. 55-62. [russ.] [9] Otečnik - Das Väterbuch, zusammengestellt vom heiligen Ignatius Bryanchaninov. М. 1996. S. 226. [russ.] [10] Anastasij (Gribanovskij), Metr. Gespräche mit dem eigenen Herzen. SPb. 2002. S. 46, 54. [russ.] [11] Kiprian (Kern), Archimandrit. Erinnerungen an Metropolit Antonij (Chrapovickij) und Bischof Gavriil (Cepur). М. 2002. S. 178. [russ.] [12] Akten des Zweiten All-Diaspora-Konzils der Russisch-Orthodoxen Kirche außerhalb Russlands unter Beteiligung von Vertretern des Klerus und der Laien, abgehalten vom 14. bis 24. August 1938 in Sremski Karlovci, Jugoslawien. Belgrad. 1939. S. 169, 682 - 683, 693. [russ.] [13] Anastasij (Gribanovskij), Metr. Gespräche mit dem eigenen Herzen. SPb. 2002. S. 188, 191. [russ.] [14] Anastasij (Gribanovskij), Metr. Gespräche mit dem eigenen Herzen. SPb. 2002. S. 187, 189, 221 - 237. [russ.] [15] Anastasij, Metr. Weihnachtsbotschaft // Cerkovnaja žizn’ 1949. № 10 - 12. S. 6-7. [russ.] [16] Protopresbyter M. Pol’skij, Die Neuen Märtyrer Russlands, Jordanville, Bd. 1: 1949, 287 S.; Bd. 2: 1957, 333 S. [17] Bestimmungen des Bischofskonzils der Russischen Orthodoxen Kirche außerhalb Russlands // Cerkovnaja žizn’. 1939. № 1 - 2. S. 8. [russ.] [18] Wort des Metropoliten Anastasij // Cerkovnaja žizn’ 1949. № 5 - 6. S. 10. [russ.] [19] Bestimmungen des Bischofskonzils der Russischen Orthodoxen Kirche // Cerkovnaja žizn’ 1951. № 2. S. 2. [russ.] [20] Bestimmungen der Bischofssynode der ROCOR // Cerkovnaja žizn’ 1958. № 1 - 6. S. 25 - 26. [russ.] [21] Anastasij, Metr. Weihnachtsbotschaft // Cerkovnaja žizn’ 1949. № 10 - 12. S. 7. [russ.] [22] Bestimmungen des Bischofskonzils der Russischen Orthodoxen Kirche // Kirchliches Leben. 1953. № 9 - 12. S. 56-57. [russ.] [23] Sendschreiben des Bischofskonzils der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland an das leidende russische Volk // Cerkovnaja žizn’ 1959. № 11 - 12. S. 173-174. [24] Bekanntlich berief sich die Leitung des Moskauer Patriarchats auf die Worte des Apostels Paulus über den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit (Röm 13:1-5). Als Antwort auf dieses Argument stellte das Bischofskonzil der Russischen Auslandskirche in seinem Sendschreiben von 1933 fest, dass die maßgeblichen Ausleger der apostolischen Briefe, der heilige Johannes Chrysostomus (4. Jh) und der selige Theodoret von Kyros (5. Jh), die Worte des Apostels auf das Prinzip des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit bezogen.Die Worte des Apostels bezogen sich auf das Prinzip der staatlichen Macht, die für die Ordnung der Gesellschaft notwendig ist, und nicht auf bestimmte Herrscher, unter denen es viele Tyrannen gab, die die Macht mit Gewalt an sich rissen, und viele Feinde Gottes, wie der biblische König Saul. Das Konzil der Bischöfe verwies auch auf die Worte Gottes im Buch des Propheten Hosea: "Israel verwarf das Gute... Sie haben Könige eingesetzt ohne mein Zutun, sie haben Fürsten aufgestellt, aber ohne dass ich wusste" (Hosea 8:4). "Wenn jede Autorität", so im Sendschreiben, "schon durch die Tatsache ihrer Existenz als geheiligt anerkannt würde, dann hätte Christus, der Erlöser, Herodes nicht einen 'Fuchs' genannt (vgl. Lukas 13:32), die Kirche hätte nicht die ruchlosen Herrscher angeprangert, welche die Häresien verteidigten und die Orthodoxie verfolgten" (voller Text in: Nikon (Rklitsky), Erzbischof, Biographie des seligen Antonij, Metropolit von Kiew und Galizien. Т. 6. New York. 1960. S. 269-299. [russ.]). [25] Siehe z.B.: Nikodim, Erzbischof "Frieden und Freiheit" (Bericht an eine regionale Konferenz in Holland) // Zeitschrift des Moskauer Patriarchats. 1963. № 1. S. 42. [russ.] [26] Den an der nachfolgenden Thematik Interessierten wird das deutschsprachige Buch des russischen Historikers aus St.-Petersburg empfohlen: Michail Shkarovskij, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches gegenüber den orthodoxen Kirchen in Osteuropa (1939-1945), Forum Orthodoxe Theologie, Bd. 4, Münster 2004. Dort auf S. 81f zur Frage der Gebete, man müsse die Haltung «der führenden Organe der Auslandskirche und die einzelner Kleriker und weltlicher Emigrantenorganisationen unterscheiden». Der Bischofssynod hat niemals Gebete für den Sieg Hitlers vorgeschrieben, sondern sie sogar verboten und stattdessen gefordert, die russischen Menschen sollten nur für die Rettung Russlands beten. Das entsprach der Praxis in Belgrad, wo sonntags «keine anderen Gebete als die üblichen, die auch vor dem Kriege gelesen worden waren und die u.a. auch die Bitte um Rettung des Vaterlandes enthielten, „erneuere, rette und erbarme Dich unseres leidenden Vaterlandes“». - Anm. d. Red. [27] Bestimmungen der Bischofssynode der ROKA // Cerkovnaja žizn’ 1936. № 7. S. 99. [russ.] [28] Einweihung der Berliner Kathedrale // Cerkovnaja žizn’ 1938. № 5-6. S. 93-96; Böswilligkeit oder Unbedachtheit? // Utrennjaja zarja, Die Morgenröte. 1938. № 10-11. S. 84-85; Die deutsche Presse über die Einweihung der russisch-orthodoxen Kathedrale in Berlin // Cerkovnaja žizn’ 1938. № 7. S. 110. [russ.] [29] Brief des Patriarchen von Antiochien an den Vorsitzenden des Bischofssynods // Cerkovnaja žizn’ 1939. № 7. С. 101; Brief des Erzbischofs von ganz Griechenland an den Vorsitzenden des Bischofssynods // Cerkovnaja žizn’ 1939. № 7. S. 102. [russ.] [30] Antoniy (Sinkevich), Archimandrit Nikon 28.09.1945 // Archiv der Russischen Geistlichen Mission in Jerusalem (MP). D. 225-n "Archimandrit Nikon". [russ.] [31] Jubiläumsband zur Erinnerung an das 150-jährige Bestehen der Russisch-Orthodoxen Kirche in Nordamerika. Teil 2, New York. 1945. S. 34. [russ.] [32] Siehe: Akten des Zweiten All-Diaspora-Konzils der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland. S. 460, 520. [russ.] [33] Zum hundertsten Jahrestag der Geburt. Der selige Metropolit Anastasij // Cerkovnaja žizn’ 1973. № 5-7. S. 45. [russ.] [34] Shkarovsky M. Nazi-Deutschland und die Orthodoxe Kirche. М. 2002. S. 249-252. [russ.] In deutscher Sprache: Michail Shkarovskij, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches gegenüber den orthodoxen Kirchen in Osteuropa (1939-1945), Forum Orthodoxe Theologie, Bd. 4, Münster 2004, S. 117-118. [35] Nikitin A. Das NS-Regime und die russisch-orthodoxe Gemeinde in Deutschland. М. 1998. С. 338. [russ.] [36] Kornilov A. Verwandlung Russlands. Nižnij Novgorod. 2000. С. 87. [russ.] [37] Seide G. Das Bischofskonzil von 1946 und seine Bedeutung für die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland // Cerkovnaja žizn’ 1986. № 9 - 10. S. 162. [russ.] [38] Zum hundertsten Jahrestag seiner Geburt. Der selige Metropolit Anastasij // Cerkovnaja žizn’ 1973. № 5 - 7. S. 46. [russ.] [39] Kostryukov A. Die Russische Kirche im Ausland 1939 - 1964. Verwaltungsstruktur und Beziehungen mit der Kirche im Vaterland. М. 2015. S. 393. [russ.] [40] Troickij S. Über die Unwahrheit des Karlowitzer-Schismas. Editions de L'Exarchat Russe en Europe Occidentale. Paris. 1960. Repr. Moskauer Patriarchat, 1992. S. 94, 114. Beglov A., Shilkin A. Das Karlowitzer-Schisma – Vergangenheit und Gegenwart. М. 1975. S. 18. [russ.] [41] Osterbotschaft des Vorsitzenden des Bischofssynods der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland // Cerkovnaja žizn’ 1948. № 4-5. S. 1-11. [russ.] [42] Anastasij, Metr. Weihnachtsbotschaft // Cerkovnaja žizn’ 1951 № 5-6. S. 7. [russ.]
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