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Der Bote

Orthodoxe ukrainische Gemeinden in Deutschland, unter besonderer Berücksichtigung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK). Eine kanonische Einschätzung

Autor: Dr. Anargyros Anapliotis

A. Vorbemerkungen

Dr. Anargyros Anapliotis

In der vorliegenden Analyse geht es um eine kirchenrechtliche Perspektive und Einordnung der orthodoxen Gemeinden in Deutschland, die von Gläubigen und Geistigen aus der Ukraine gegründet oder besucht werden. Jenseits der hier konkret angesprochenen Thematik bleiben in der Tiefe substantielle Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Kirche, Kirche und Ethnie (einschließlich Kultur und Sprache) bestehen. Diese sollten im Hintergrund mitbedacht werden, eben als Fragen, denn sie bedürfen einer eigenen Bearbeitung, für die hier allenfalls ein Ansatz geboten wird.

Seit sich im Zuge des Ukrainekriegs große Wellen von Kriegsflüchtlingen in Deutschlands Großstädten niedergelassen haben, bemerkt man in deren orthodoxen Kirchen einen bedeutenden Zuwachs an Mitgliedern orthodoxer Kirchen ukrainischer Prägung und Sprache. Problematisch wird es, besonders für westliche Augen, zu orten, zu welcher „orthodoxen“ und „ukrainischen“ Kirche genau sie gehören. Nicht allen in Deutschland mag bewusst sein, dass besonders nach Ausbruch des Krieges und der damit einhergehenden territorialen, politischen und soziologischen Änderungen auch die kirchliche Bevölkerung der Ukraine sich neu orientiert. So findet man hierzulande ukrainische Gemeinden  verschiedener Jurisdiktionen. Angehörige dieser Kirchen, die in Deutschland Schutz vor dem Krieg suchen, schließen sich entweder bestehenden Gemeinden der hiesigen Jurisdiktionen an oder bildeten neue. Wenn es nun in Deutschland fünf verschiedene offizielle kirchliche Anlaufstellen für Gläubige aus der Ukraine gibt – und dies neben den Gemeinden der mit Rom unierten ukrainischen Kirchen des byzantinischen Ritus – ist natürlich die Verwechslungsgefahr groß. Bedenkt man dazu, dass sich die Kirchen untereinander teils als nicht kanonisch bezeichnen, ist besonders für protestantische oder römisch-katholische Gemeinden in Deutschland, die die entsprechenden ukrainischen Gemeinden u.a. durch Überlassung ihrer Gebäude unterstützen, das Potenzial für Unübersichtlichkeit und sogar  Irritationen nicht zu verachten. Mit Blick auf diese Situation und auf Basis der Erkenntnisse im exzellenten Artikel von Prof. Dagmar Heller[1] findet sich nachstehend eine Situationsanalyse der in Deutschland vertretenen orthodoxen ukrainischen Kirchen.

B. Aufstellung der Gemeinden

1. Ukrainische Gemeinden im Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs organisierten sich exilukrainische Gemeinden unter dem Namen „Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche in der Diaspora“. Autokephaliebestrebungen in der Ukraine hatte es bereits seit 1917 gegeben; diese entwickelten sich auch im Rahmen der „Erneuererbewegung“ der 1920er Jahre und wurden im Sowjetstaat im Rahmen der allgemeinen Religionsverfolgung brutal unterdrückt. Unter deutscher Besatzung 1941 erstand die national orientierte „Autokephale Ukrainische Kirche“ von Neuem (im Gegensatz zur „Autonomen Ukrainischen Kirche“, die nicht radikal anti-russisch war) und organisierte sich 1950 nach der Evakuierung in München neu. Während in der UdSSR eine Weiterexistenz unmöglich war, wirkten solche Gemeinden in der gesamten ukrainischen Emigration, von wo aus dann 1990 Impulse zur Wiederherstellung auch in der Ukraine selbst ausgingen. Die erstarkenden Gemeinden in der Emigration wurden schließlich 1995 in das Ökumenische Patriarchat aufgenommen und sind hierzulande seit 1997 in der Orthodoxen Bischofskonferenz (OBKD – s. Anm. 2) vertreten. In ihrer heutigen Erscheinungsform heißen sie Ukrainische Orthodoxe Diözese von Westeuropa. Ihr Dekanat zählt in Deutschland bundesweit 30 Gemeinden, zu finden unter www.uokd.de/gemeinden (vor 2022 gab es übrigens nicht mehr als fünf). Diese Gemeinden unterstehen seit 2016 dem Erzbischof Daniil (Zelinski) von Pamphilon, der in den USA residiert.                                                                                                                               

2. Die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU): Die OKU wurde 2018 durch den vom Ökumenischen Patriarchat verliehenen Autokephalie-Tomos gegründet, mit Epiphanij (Dumenko) als Oberhaupt, letzterem wurde durch den Tomos der Rang eines Metropoliten verliehen. Priester bzw. Gläubige, die aus der OKU nach Deutschland kommen, müssten in der Theorie unter die Leitung des Ökumenischen Patriarchats kommen, denn laut des Tomos darf die OKU ihre Tätigkeit nicht auf das Ausland ausdehnen,  in Deutschland also keine eigenen Gemeinden ohne den Segen des Ökumenischen Patriarchats eröffnen.[2]

Darüber hinaus ist im „Autokephalie-Tomos“ für die OKU festgehalten:

„Um bedeutende Fragen kirchlicher, dogmatischer und kanonischer Natur zu lösen, sollte sich der Seligste Metropolit von Kyїv und der ganzen Ukraine im Namen der Heiligen Synode seiner Kirche an unseren Allerheiligsten Patriarchal- und Ökumenischen Thron wenden, indem er sich um dessen autoritative Meinung und festes gegenseitiges Verständnis bemüht, wobei die Rechte des Ökumenischen Throns auf ein Exarchat in der Ukraine und die heiligen Stauropegien unvermindert bestehen bleiben.“[3]

Allerdings haben sich in Deutschland dennoch, entgegen den Bestimmungen des Tomos, eigenständige Gemeinden der OKU gegründet, deren jurisdiktioneller Status mithin unklar ist. Es sind keine vertrauenswürdigen Quellen dazu bekannt, wie viele solcher Gemeinden in Deutschland derzeit existieren.

Der Vorsitzende der OBKD, Metropolit Augoustinos (Lambardakis), war im Jahr 2018 an der Gründung dieser panorthodox nicht anerkannten und von vielen Lokalkirchen als schismatisch gebrandmarkten kirchlichen ukrainischen Parallelstruktur, die jetzt vertragswidrig in der Diaspora expandiert, beteiligt. In Deutschland wird dies zu einem erschwerenden Faktor bei der Suche nach Lösungen für die sich verkomplizierende Diasporafrage.

3. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK): Auch diese Kirche, der seit 2014 Onufriy (Berezovsky), der Seligste Metropolit von Kiew und der Ganzen Ukraine, vorsteht, gründet seit 2022 (s.u.) eigene Gemeinden in Deutschland. Bis heute ist die UOK, trotz Gründung der „OKU“ (s. Punkt 2) die orthodoxe Mehrheitskirche in der Ukraine[4]. Sie gehörte als autonome Kirche ursprünglich der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats (ROK-MP) an. Mit Beginn des Krieges 2022 hat sie sich jedoch gegen die russische Position gestellt und sagte sich von der Jurisdiktion Moskaus los (ohne dabei Autokephalieansprüche zu stellen). Die von der UOK eigens gegründeten Gemeinden in der Diaspora sind direkt Metropolit Onufriy unterstellt; verwaltet werden sie von Bischof Benjamin (Vološčuk).[5] Das Konfessionskundliche Institut in Bensheim betreibt eine dynamische Liste der UOK-Gemeinden, die fortlaufend ergänzt werden soll[6]. Diese Gemeinden pflegen derzeit weder Beziehungen zu den Diaspora-Diözesen der ROK-MP und der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland (ROKA), noch zur OBKD. Grund für letzteres ist, dass einerseits das Moskauer Patriarchat (dessen Mitgliedschaft in der OBKD zurzeit ruht) diese Entwicklung mit Sorge betrachtet[7] – fürchtet sie doch um eine Spaltung der eigenen bislang gemischten Diaspora – andererseits das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel seit 2018 nur die OKU als kanonisch anerkennt, nicht mehr dagegen die UOK[8]. Außerdem ist es nachvollziehbar, wenn sich die UOK nicht an den Vorsitzenden der OBKD wendet, der, wie oben erwähnt, durch seine Beteiligung an der Gründung der OKU  die von der UOK strikt abgelehnte Spaltung innerhalb der ukrainischen Orthodoxie legitimierte.

4. Das sog. Kiewer Patriarchat: Eine einzige Gemeinde in Deutschland (zu finden unter www.ukrainian-church.de) mit Sitz in Köln erklärt sich dieser Jurisdiktion zugehörig.[9] Hierbei geht es um eine 1992 von der oben genannten UOK abgespaltene Gruppierung unter der Leitung des selbsternannten Patriarchen Filaret (Denysenko). Wenngleich diese Kirche 2018 in die OKU mitfusioniert worden war, spaltete sie sich von dieser gleich im Jahr darauf wieder ab aufgrund von innerkirchlichen Konflikten zwischen Filaret und Epiphanij. Selbst wenn diese Kirche wieder als eigenständig auftritt und sich genauso Ukrainische Orthodoxe Kirche nennt (eben mit dem Zusatz „Kiewer Patriarchat“), wird sie von keiner anderen Kirche der Orthodoxie anerkannt.

5. Die Russische Kirche: Wenngleich sich die UOK von der Russischen Kirche gelöst hat, gehören nach wie vor ukrainische Priester und Gläubige aus der UOK den Gemeinden der für Deutschland territorial zuständigen Diözesen der ROK-MP und der ROKA an. Viele Flüchtlinge – Laien und Priester – schlossen sich diesen russischen Gemeinden an[10]. Sowohl die ROK-MP als auch die ROKA sind grundsätzlich in der OBKD vertreten, allerdings mit ruhender Mitgliedschaft, wobei die ROKA an der Arbeit der Kommissionen der OBKD teilnimmt. Ebenso schlossen sich ukrainische Flüchtlinge den deutschen Gemeinden des Erzbistums der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa (Archevêché des églises orthodoxes de tradition russe en Europe occidentale) mit Sitz in Paris an. Dieses 1931 vom Ökumenischen Patriarchat provisorisch aufgenommene Erzbistum bzw. Exarchat russischer Tradition ging nach einer wechselvollen Geschichte im Jahre 2018 unter der Leitung von Metropolit Johannes (Renneteau) in die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats über und genießt dort weitgehend autonomen Status.

Die obige Aufstellung zeigt: wenn sich ein Christ in Deutschland als „ukrainisch“ und „orthodox“ bezeichnet, kommen à priori fünf verschiedene Jurisdiktionen bzw. sechs selbständige Kirchen für seine oder ihre Zugehörigkeit in Frage. Erschwerend kommt die starke Ähnlichkeit in der Nomenklatur hinzu, denn fast alle tragen im Namen in irgendeiner Weise eine direkte Nennung der Ukraine und der Orthodoxie. Die Zuordnung wird mithin erheblich erleichtert, wenn das kirchliche Oberhaupt der infrage kommenden Gemeinde festgestellt werden kann.

C. Der Beschluss des Konzils der Ukrainischen Orthodoxen Kirche vom 27. Mai 2022[11]

Das Konzil der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (im Folgenden: das Konzil – slaw. Sobor), welches am 27. Mai 2022 in Feofanija bei Kiew stattfand, befasste sich mit den Fragen des kirchlichen Lebens, welche infolge der „militärischen Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine“ entstanden sind. Auf der Grundlage der Ergebnisse seiner Arbeit hat das Konzil Folgendes beschlossen[12]:

„7. Für die Zeit des geltenden Kriegsrechts, wenn die Verbindungen zwischen den Diözesen und dem kirchlichen Leitungszentrum erschwert oder nicht vorhanden sind, hält es das Konzil für zweckmäßig, den Diözesanbischöfen das Recht zu gewähren, über bestimmte Fragen des Diözesanlebens, welche in der Zuständigkeit des Heiligen Synods oder des Vorstehers der Ukrainischen Orthodoxen Kirche liegen, eigenständig zu entscheiden. Wenn später die Möglichkeit dazu wiederhergestellt sein wird, soll die Hierarchie darüber informiert werden.“

Das Konzil hat sich in diesem Absatz auf einen bekannten Erlass der Russischen Kirche gestützt (bekannt als Erlass, Dekret bzw. Verfügung 362), der die Kanonistik der Russischen Kirche im 20. Jahrhundert geprägt hat: Am 7./20. November 1920 hatte die Oberste Kirchenverwaltung in Moskau (bestehend aus Patriarch, Hl. Synod und Kirchenrat) in 10 Punkten dargelegt, wie sich die Kirche im Fall des damaligen Bürgerkrieges zu verhalten habe, wenn „in Folge von Verschiebung der Front, Änderung der Staatsgrenze und ähnlichem“ die Verbindungen zur Kirchenverwaltung abbrechen.[13] Die Bischöfe, die sich in einer solchen Notlage wiederfanden, hatten grundsätzlich zwei Aufgaben:

  1. Sie mussten konziliare Strukturen bilden und mit jenen Bischöfen in kirchliche Gemeinschaft treten, mit denen dies möglich war, sprich: die sich auf derselben Seite der Frontlinie befanden.

  2. Sollte jedoch ein Bischof im Rahmen des Kriegsgeschehens völlig isoliert sein und keine Möglichkeit haben, konziliar zu agieren, hatte er „alle Macht auf sich zu nehmen“ und sollte „alle Maßnahmen zur Regelung des örtlichen kirchlichen Lebens […] entsprechend den örtlichen Gegebenheiten treffen, indem er alle Fragen, die nach den Kanones bischöflicher Gewalt unterliegen, […] selbst entscheidet, […] auch allein und auf eigene Verantwortung.“[14]

Es würde zu weit gehen, darüber zu spekulieren, warum sich das Konzil der UOK von 2022 nicht explizit auf das berühmte Dokument berufen, sondern lediglich bestimmte Formulierungen daraus übernommen hat. Tatsache ist jedoch, dass der Erlass 362 heute wieder eine Rolle spielt, wenn eine kanonische Lösung für den Kriegsfall gefunden werden muss. So berief sich auch das Moskauer Patriarchat auf denselben Erlass als einen „Präzedenzfall“, als es die kirchliche Leitung in den von Russland annektierten ukrainischen Territorien übernahm, weil letztere „durch Verschiebung der Frontlinie“ ohne funktionierende Kirchenverwaltung geblieben sind.[15]

Für das Thema unseres Artikels ist der Absatz im Dokument des Konzils in Feofanija von 2022 über die Diasporatätigkeit der UOK von besonderem Interesse:

„8. Eine neue pastorale Herausforderung wurde für unsere Kirche in letzter Zeit besonders akut. Während der drei Kriegsmonate wurden mehr als 6 Millionen ukrainische Staatsbürger dazu gezwungen, ins Ausland auszureisen. Es handelt sich hauptsächlich um Ukrainer aus den südlichen, östlichen und zentralen Regionen der Ukraine. Ein beträchtlicher Teil von ihnen sind Gläubige der Ukrainischen Orthodoxen Kirche. Aus diesem Grund erhält die Kyїver Metropolie der Ukrainischen Orthodoxen Kirche Aufrufe aus verschiedenen Ländern mit der Bitte, ukrainische orthodoxe Pfarreien zu gründen. Es ist offensichtlich, dass viele unserer Landsleute in ihre Heimat zurückkehren werden, aber nicht wenige werden dauerhaft im Ausland bleiben. In diesem Zusammenhang drückt das Konzil seine tiefe Überzeugung aus, dass die Ukrainische Orthodoxe Kirche ihre Gläubigen nicht ohne Seelsorge lassen kann, sie soll ihnen in ihren Prüfungen beistehen und Kirchengemeinden in der Diaspora organisieren. Es ist notwendig, auch weiterhin die Mission unter den orthodoxen Ukrainern im Ausland auszubauen, damit diese ihren Glauben, ihre Kultur, ihre Sprache und ihre orthodoxe Identität bewahren“.

In diesem Beschluss vom 27. Mai 2022 hat die UOK, wie erwähnt, ihre Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat erklärt, wenngleich sie das Wort „Autokephalie“ bis heute nicht verwendet. Sie verfügt daher selbständig über alle Diözesen und Gemeinden auf dem Gebiet des Staates Ukraine. In den letzten gut zwei Jahren hat die UOK, wie auch im genannten Beschluss angekündigt, einige Gemeinden außer Landes gegründet und tut dies auch weiterhin. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Handlung kanonisch ist, da dadurch zusätzliche Parallelstrukturen in der Diaspora entstehen. Die UOK begründet diesen Schritt mit der pastoralen Verantwortung, die sie für die vielen Gläubigen ihrer Kirche trägt, die wegen des Krieges ihre Heimat verlassen mussten, da diese Flüchtlinge weiterhin betreut werden sollen. Es wäre allerdings möglich, diese Seelsorge unter der Jurisdiktion einer bereits in der Diaspora, in diesem Fall Deutschland, vorhandenen Diözese zu organisieren, wie das teilweise auch geschieht (s. oben). Jedoch wäre dies – so das Argument – nicht für alle ukrainischen Flüchtlinge annehmbar. Einige haben beispielsweise Schwierigkeiten, eine Gemeinde der ROK-MP oder der ROKA zu besuchen aufgrund deren Zugehörigkeit bzw. deren Bezug zum Patriarchat von Moskau. Erzpriester Mykola Danylewytsch, stellv. Leiter des Außenamtes der UOK, erklärte in einem Interview, „dass die meisten orthodoxen Ukrainer nichts mit dem zu tun haben wollen, was sie an Russland erinnert.“[16]

Geht man in die Geschichte, so lohnt es sich zunächst die erste große Diaspora-Kirche des 20. Jhs anzuschauen. Die ROKA befand sich in den 1920-er Jahren in einer ähnlichen Notlage, was den Kontakt zur Kirchenleitung angeht, der aufgrund der Verfolgungen in der UdSSR sehr erschwert war bzw. zunehmend unmöglich wurde. Es gibt jedoch auch gewisse Unterschiede zur heutigen „Diaspora“ der UOK:

  • Die ROKA ging aus der seit Jahrhunderten autokephalen ROK hervor mit ihren sprachlichen, kirchenrechtlichen, liturgischen etc. Traditionen. Sie hat sich nicht abgetrennt, sondern seit ihrer Gründungszeit stets als „einen unabtrennbaren Teil der einen Russischen Kirche“ bezeichnet. Nach ihrem Selbstverständnis war sie weder autonom noch „selbständig“. Vielmehr sah sie sich angesichts der drohenden Auslöschung der ROK in der Sowjetunion als Bewahrerin der Identität, der Traditionen und auch der Struktur der Russischen Kirche (auch und besonders ihres ukrainischen Teils – ihr erstes Oberhaupt trug zeitlebens den vom Allrussischen Landeskonzil 1918 verliehenen Titel Metropolit von Kiew und Galizien). Über den Erlass 362 hinaus hat sich die ROKA kanonisch auch auf das historische Beispiel der Diaspora von Zypern berufen, auf welches weiter unten eingegangen wird. Die ROKA konnte außer Landes diese ihre Substanz relativ unbehelligt bewahren. Die Situation der UOK ist demgegenüber zwiespältig: Die UOK hat einerseits dieselben historischen und kulturellen Wurzeln wie die ROK-MP bzw. die ROKA, andererseits sieht sie sich einer massiven Verfolgungswelle im eigenen Land ausgesetzt; als eigenständige Kirchenstruktur vor ein Existenzrisiko gestellt, wird sie politisch auf einen Anpassungskurs gezwungen.

  • Die ROK hatte auch vor 1917 bereits Gemeinden im Ausland und eine eigene kirchliche Verwaltung der Diasporagemeinden, welche nach der Revolution organisch in der ROKA aufgingen. Ebenso schlossen sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs Klerus und Gläubige, die aus der damaligen Autonomen Ukrainischen Orthodoxen Kirche stammten und evakuiert wurden bzw. flohen, 1946 im Ausland der 1920 entstandenen ROKA an. Im Fall der modernen ukrainischen Kirche gehörten ukrainische Gläubige und Priester, die bisher aus welchen Gründen auch immer in der Diaspora landeten, kanonisch der jeweiligen Diaspora-Diözese der ROK-MP bzw. ROKA an, wofür sie ein Entlassungsschreiben ihres Heimatbischofs vorzuweisen hatten. Etwa die Hälfte der Priester in der ROKA in Deutschland sind übrigens gebürtige Ukrainer.

  • Die kirchlichen Vertreter, die letztlich ab den 1920er Jahren die ROKA bildeten, waren explizit vor der Kirchenverfolgung in Russland und dem anti-kirchlichen Regime dort geflohen. Kanonisch war für den Fall der Trennung zwischen Bischöfen/Priestern und der Kirchenleitung in St. Petersburg bzw. Moskau durch Entscheidungen des Landeskonzils von 1918 vorgesorgt, was dann im Erlass 362 der Obersten Kirchenverwaltung aus dem Jahr 1920 präzisiert wurde. Eben auf diesen – auf einem Konzilsbeschluss der gesamten Kirche beruhenden – Erlass berief sich die ROKA bei der Erklärung ihrer zeitweisen Unabhängigkeit von Moskau, argumentierte aber auch mit zwei Kanones des Quinisextum, womit sich eine erweiterte Sicht auf das Diaspora-Geschehen bietet, auf das wir in der Folge eingehen.

D. Kanonische Beurteilung der Gemeinden der Ukrainischen Orthodoxen Kirche in Deutschland

1. KAN. 37 von QUINISEXTUM (QS)

„Denn zu verschiedenen Zeiten gab es Einfälle von Barbaren, und deshalb wurden die meisten Städte von den Gesetzlosen versklavt, und aus diesem Grund war es dem Vorsteher einer solchen Stadt unmöglich, nach der Weihe seinen Thron zu empfangen, sich darauf mit priesterlicher Autorität niederzulassen und so, nach treuer Sitte, Weihen zu erteilen und zu vollziehen und alles, was einem Bischof zusteht: Darum haben wir, da wir das Priestertum ehren und achten und wollen, dass die Versklavung durch die Heiden den kirchlichen Rechten keinen Schaden zufügt, beschlossen, dass die so Geweihten, die aus dem genannten Grund nicht auf den Thron gekommen sind, deswegen nicht verurteilt werden sollen[17]: Darum sollen sie die verschiedenen Grade des Klerus nach den Regeln ordinieren und das Vorrecht des Vorsitzes nach ihren jeweiligen Grenzen ausüben, und alles, was von ihnen ausgeht, soll als fest und rechtmäßig anerkannt werden. Denn die Not der Zeit und die Hindernisse, die der Einhaltung der Akribeia entgegenstehen, sollen die Grenzen der Oikonomia nicht beeinträchtigen”[18].

Nach diesem Kanon bleibt ein Bischof im Exil der legitime Oberhirte seiner Diözese, selbst dann, wenn er keine Möglichkeit hat, diese zu besuchen. Er kann seine Diözese also auch aus der Entfernung leiten. Die heutigen Kommunikationsmittel erleichtern das sehr. Weil andere Kanones jegliche Einmischung eines Exilbischofs in die inneren Angelegenheiten der gastgebenden Diözese verbieten, kann es sich bei seiner Weihevollmacht nur um den Klerus der eigenen Diözese handeln, dessen Versammlungen er auch leiten darf — wahrscheinlich durch delegierte Presbyter.

Dieser Kanon beschreibt zwar nicht vollständig die ukrainische Situation, denn es wäre nicht korrekt, von „Barbareneinfällen“ und „versklavten Städten“ zu sprechen, er kann dennoch angewandt werden, da der Geist des Kanons durchaus die Situation der orthodoxen Ukrainer widerspeigelt, die sich aufgrund der „Not der Zeit“ und der „Hindernisse, die der Einhaltung der Akribeia entgegenstehen“ in der gegenwärtigen Lage befinden. Wie das Pedalion betont[19], sind die Weihen, die ein solcher Bischof außerhalb des Territoriums seiner Diözese für diese vornimmt, gültig, obschon dies der Akribeia widerspricht. Die Kleriker verlassen ihre Heimat in der Regel unfreiwillig und aufgrund des Krieges, beziehungsweise Bischöfe und Kleriker können, wie im Fall der unter russische Kontrolle geratenen Gebiete oder im Fall von Zwangsenteignungen und Verhaftungen durch die ukrainischen Behörden, in ihrer Diözese gar nicht oder nur sehr beschränkt wirken. Ähnlich wie damals die Zypriotische Kirche lässt sich argumentieren, dass die UOK in ihrer Existenz bedroht ist. Die Bischöfe der UOK bleiben demnach rechtmäßige Bischöfe ihrer Diözese, auch wenn sie sich nicht in dieser befinden[20].

Bei der Frage der Ausweitung der UOK auf Deutschland sollte der folgende Kanon bedacht werden:

2. KAN. 39 Quinisextum

„Da unser Bruder und Mitliturge Johannes, der Vorsteher der Insel Zypern, sich mit seinem Volk wegen der Barbareneinfälle und um sich von der heidnischen Sklaverei zu befreien und sich treu dem Zepter der christlichen Macht zu unterwerfen, durch die Vorsehung Gottes, der die Menschen liebt, und durch die Fürsorge unseres christusliebenden und frommen Königs von der genannten Insel in die Region des Hellespont entfernt hat, beschließen wir: dass die Vorrechte (προνόμια), die dem Thron des oben genannten Mannes von den einst in Ephesus versammelten gotttragenden Vätern verliehen wurden, unverändert erhalten bleiben, dass das neue Justinianopolis die Rechte Konstantinopels hat (ὥστε τὴν νέαν Ἰουστινιανούπολιν τὸ δίκαιον ἔχειν τῆς Κωνσταντινουπόλεως) und dass der dort zu errichtende ehrwürdige Bischofsitz allen Bischöfen der Hellespont-Region vorstehen (προεδρεύειν) soll und nach einer alten Gewohnheit von seinen eigenen Bischöfen geweiht werden kann (ὑπὸ τῶν οἰκείων ἐπισκόπων χειροτονεῖσθαι, κατὰ τὴν ἀρχαίαν συνήθειαν). Denn unsere gotttragenden Väter haben auch überlegt, dass die Gewohnheiten jeder Kirche beachtet werden sollen und dass der Bischof der Stadt Kyzikos dem Vorsteher der genannten Justinianopolis unterstellt sein soll, nach dem Beispiel aller anderen Bischöfe, die dem genannten ehrwürdigen Vorsteher Johannes unterstellt sind; von diesem soll, wenn nötig, der Bischof der Stadt Kyzikos selbst ordiniert werden.”[21]

Die Autokephalie der Kirche Zyperns, welche vom 3. Ökumenischen Konzil von Ephesos (431) bestätigt wurde, hatte auch während des Exils der Hierarchie und eines Teils von Gläubigen dieser Kirche nach der arabischen Eroberung der Insel im Gebiet von Hellespontos weiter Bestand. Mit anderen Worten, die territoriale Jurisdiktion wurde in der Diaspora in eine personale Jurisdiktion umgewandelt[22]. Während der Herrschaft von Kaiser Justinian II. verließ der Erzbischof von Zypern, Johannes, zusammen mit seinen Priestern und Laien die Eparchie Zypern und zog in die Eparchie des Hellesponts, wo es bereits kanonische Bischöfe gab. Dort haben sie ihr kirchliches Leben wie gewohnt weitergeführt und sich nicht in die vorhandenen Strukturen eingefügt. Dies geschah sowohl wegen der Einfälle der Barbaren als auch aufgrund seiner Befreiung aus der Gefangenschaft durch die Vorsehung Gottes und den Einsatz des Kaisers, wodurch er wieder Untertan des Römischen Reiches wurde. Aus diesem Grund bestimmte der betreffende Kanon, dass die dem Bischof von Zypern durch Kanon VIII des 3. ökumenischen Konzils von Ephesos verliehenen Privilegien vollständig erhalten bleiben sollten. Die neu gegründete Stadt Justinianopolis[23] sollte die gleichen Rechte wie Konstantinopel genießen, einschließlich des Rechts, autokephal zu sein. So wie die asiatischen, pontischen und thrakischen Provinzen dem Bischof von Konstantinopel unterworfen wurden, sollte auch die hellespontische Provinz oder Eparchie Zypern diesen Status erhalten. Der Erzbischof dieser Region sollte von seinen eigenen Bischöfen gemäß dem alten Brauch geweiht werden, wobei der Metropolit von Kyzikos ihm unterstellt sein sollte. Ebenso sollten alle Bischöfe in Zypern diesem Erzbischof unterstehen und bei Bedarf von ihm geweiht werden[24]. Weil es die Entscheidung eines Ökumenischen Konzils war, handelt es sich um einen Präzedenzfall, bei dem keine Zustimmung der gastgebenden Kirche erforderlich ist — diese wird angesichts der Autorität einer solchen Kirchenversammlung und der Beteiligung derselben am Konzil stillschweigend vorausgesetzt. Der Thron von Konstantinopel hat seine Rechte über Kyzikos an die zypriotische Hierarchie nicht selbst delegiert, sondern diese wurden an sie durch das Ökumenische Konzil übertragen. Dieses Vorgehen wurde vom Quinisextum als kanonisch bestätigt und auf diese Weise behielt diese Kirche auch im Exil ihre Vorrechte als eine selbständige Kirche.

Die im Exil lebenden Zyprioten befanden sich gewisserweise in einer ähnlichen Situation wie heute die ukrainischen Flüchtlinge: Aufgrund der Notlage, also des Krieges, haben die Gemeinden der UOK durchaus eine Daseinsberechtigung, folglich wären die gegründeten Parallelstrukturen kanonisch. Es sei jedoch angemerkt, dass die UOK formal keine autokephale Kirche ist: Sie hat weder einen Tomos erhalten, noch selbst ihre Autokephalie proklamiert, sehr wohl aber ihre pastorale Pflicht in der Diaspora zu agieren angemeldet. Der Beschluss vom 27. Mai 2022 verkündete zwar eine Loslösung von Moskau und das Vorgehen der UOK gleicht auch dem einer autokephalen Kirche, formal ist der Autokephaliestatus allerdings nicht vollständig kanonisch geklärt. Für die Vollständigkeit ist eine panorthodoxe synodale Bestätigung notwendig, wie das im Falle von Zypern durch das Quinisextum geschehen ist. Diese Bestätigung müsste eigentlich von einem Ökumenischen bzw. Panorthodoxen Konzil erfolgen. Die Einberufung eines solchen Konzils ist jedoch in der gegenwärtigen Lage so gut wie ausgeschlossen.

Und darin besteht der Unterschied zur Situation der ROKA in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, denn die ROKA bemühte sich um eine Regelung ihres kanonischen Status durch die anderen Lokalkirchen. Am 2. Dezember 1920 verfasste die Synode des Ökumenischen Patriarchats den Tomos № 9084, welcher die Organisation der damals von den Sowjets geflüchteten und emigrierten Kirchenverwaltung der ROKA regeln sollte. Nach G. Seide gab „diese Vollmacht den russischen Hierarchen praktisch einen autonomen Status bei der Regelung ihrer Kirchenfragen […]. Praktisch verwalteten die russischen Bischöfe im Kirchenkreis Konstantinopel fortan die russischen Gemeinden völlig unabhängig vom Patriarchen und betrachteten das Gebiet als eigenes Bistum […].“[25] Im Übrigen formulierte das damalige Dekret einen konkreten Aufgabenkomplex für die besagten fünf Bischöfe: „Eure Aufgabe wird es sein, ihnen [den besagten russischen Kolonien] Priester, Antimensien, Prediger und alles Nötige zu entsenden, sie persönlich zu visitieren und Zweifel, die auftreten können, durch eure Belehrungen zu zerstreuen, Konflikten ein Ende zu setzen und überhaupt alles Notwendige tun, was die Kirche und Religion zum Trost und Zuspruch russischer Christen anbietet“.[26]

Das einzige quasi vorhandene Organ in Deutschland, durch das eine formale[27] synodale Bestätigung der Kanonizität der Diasporastrukturen der UOK erfolgen könnte, ist die OBKD[28]. Aber auch von ihr ist eine solche Bestätigung eher unwahrscheinlich. Mindestens drei Mitglieder der OBKD dürften gegen eine Aufnahme der UOK sein:

Die beiden russischen Diözesen in Deutschland, die ROK-MP und die ROKA, werden kaum einer Aufnahme der UOK in die OBKD zustimmen, da sie den quasi-autokephalen Status der UOK vermutlich in Frage stellen.  

Vor allem für die Diözese des MP dürfte dies gelten. Die Etablierung eines „Gegenbischofs“ für Kherson oder Berdjansk ist ein deutliches Indiz hierfür. Aber auch für die ROKA dürfte wegen der Unklarheit der Situation Ähnliches gelten. Sie hat inzwischen sehr viele Gläubige und Kleriker in ihre Jurisdiktion aufgenommen, wobei die Kleriker Entlassungsurkunden ihrer Heimatbischöfe vorzuweisen haben, was die Anerkennung des Episkopats der UOK belegt.

Das Ökumenische Patriarchat dürfte diese Gemeinden höchstwahrscheinlich für sich beanspruchen. Erstens weil es die OKU gegründet hat und grundsätzlich der Meinung ist, die gesamte UOK müsse in der vom Ökumenischen Patriarchen initiierten neuen autokephalen ukrainischen Struktur aufgehen. Zweitens, weil nach dem Verständnis des Ök. Patriarchats die ukrainische Kirche kein Recht auf Diasporagemeinden hat, so wie das im Tomos der OKU geregelt ist (Letztere hält sich allerdings nicht konsequent an diese Regelung). Nach der Logik des Ök. Patriarchats müssten sich die ukrainischen Gemeinden entweder der Metropolie von Deutschland unterordnen oder, was wahrscheinlicher ist, der früheren „Ukrainischen Autokephalen Orthodoxe Kirche in der Diaspora“, die seit 1995 Teil des Ök. Patriarchats ist.

Neben der Unwahrscheinlichkeit einer synodal-panorthodoxen Anerkennung der UOK in Deutschland, besteht noch ein weiteres Problem. Kanon 39 gestattet zwar der Kirche Zyperns ein solches Exildasein, verlangt aber auch, dass es sich nur um einen temporären Zustand handeln darf, was wiederum bedeutet, dass nach Beendigung der Notlage die Kirche wieder in ihr Territorium zurückzukehren müsste. Nach Ende des Krieges müssten die Gemeinden der UOK also aufgelöst werden und die Ukrainer, die in Deutschland bleiben möchten, müssten folglich in eine der hier bereits vertretenen Diözesen übergehen. Ob die UOK dazu bereit wäre, lässt sich jetzt nicht ersehen. Im Beschluss vom 27. Mai 2022 heißt es: „Es ist offensichtlich, dass viele unserer Landsleute in ihre Heimat zurückkehren werden, aber nicht wenige werden dauerhaft im Ausland bleiben.“ Ob diejenigen Ukrainer, die im Ausland bleiben werden, sich nach Ende des Krieges einer in Deutschland bereits vertretenen Jurisdiktion unterordnen müssen oder weiterhin in der UOK unterstehenden Gemeinden betreut werden sollen, verrät das Dokument nicht.

Abschließend muss auch erwähnt werden, dass die Selbständigkeit bzw. die „Autokephalie“ der Ukrainischen Orthodoxen Kirche nach einer theoretisch möglichen Eroberung des Landes durch Russland auch in der Diaspora fortbestehen könnte — auch dann, wenn die für das entsprechende kanonische Territorium zuständige autokephale Kirche damit nicht einverstanden wäre. Das Territorialprinzip der Kirchenorganisation[29] kann also offenbar unter besonderen Umständen außer Kraft gesetzt werden, jedoch nur solange es diese Umstände gibt, d. h. solange die Gläubigen und die Hierarchie im Exil leben — die Zyprioten waren nach 715 schließlich in ihre Heimat Zypern zurückgekehrt und Kyzikos kam wieder unter die Jurisdiktion Konstantinopels.

Wie lange ein kirchliches Provisorium andauern kann und unter welchen Umständen es aufgehoben wird, oder sich in etwas Neues umwandelt, das sind Fragen, welche bei der Betrachtung der Diaspora und ihrer bisherigen Geschichte offen gelassen werden müssen. Die heutige ukrainische Diaspora ist jedenfalls ein leuchtendes Beispiel für die Schwierigkeiten dieser Problematik.

[1] D. Heller, Orthodoxe ukrainische Kirchengemeinden in Deutschland. Ein Überblick, Bensheim 2024, in: https://konfessionskundliches-institut.de/allgemein/orthodoxe-ukrainische-kirchengemeinden-in-deutschland/

[2] Das Ökumenische Patriarchat begründet diese Haltung grundsätzlich durch seine Auslegung des Kanons 28 des IV. Ökumenischen Konzils von Chalkedon. Dieser Auslegung zufolge hat ausschließlich das Ökumenische Patriarchat das Recht, für die gesamte Diaspora zu sorgen. Entsprechend verfügt keine andere autokephale Kirche, nicht einmal wenn sie ein großes Patriarchat ist und zahlreiche ihrer Gläubigen in der sog. Diaspora leben, über eine Jurisdiktion außerhalb ihres eigenen kanonischen Territoriums. Metropolit Maximos von Sardes leitet dieses Vorrecht Konstantinopels aus dessen Stellung als erster Thron der Orthodoxie ab: “Sogar wenn der Kanon achtundzwanzig (von Chalkedon) und die früheren Kanones nicht existiert hätten, alleine schon die Tatsache, dass der Ökumenische Patriarch der erste Bischof ist, liefert eine genügende Grundlage dafür, dass alleine er für jene neuen kirchlichen Körperschaften sorgt, welche das Alter für Autokephalie noch nicht erreicht haben.” Engl.: “Even if canon twenty eight and the earlier canons did not exist, the mere fact that the Oecumenical Patriarch is the first bishop provides a sufficient basis for him alone to take care of those new ecclesiastical bodies which have not yet reached the age for autocephaly”. - Maximos, Metropolitan of Sardes, The Oecumenical Patriarchate in the Orthodox Church, Thessaloniki 1976, S. 311. 

Mit dieser Position des Ökumenischen Patriarchats in Bezug auf die orthodoxe Diaspora stimmen die meisten anderen autokephalen Ortskirchen allerdings nicht überein. Mit der Diasporafrage, d.h. der Existenz mehrerer Bischöfe bzw. Diözesen in ein und demselben Gebiet in der sog. Diaspora, setzten sich die Vertreter der orthodoxen Kirchen besonders in den 2000er Jahren intensiv auseinander. Das Ziel bestand darin, zum Heiligen und Großen Konzil von Kreta 2016 eine kanonische und tragbare Struktur für die Orthodoxe Kirche in der Diaspora zu finden. Als provisorische kanonische Lösung wurde in der 45. Vorkonziliaren Panorthodoxen Konferenz vom 12. Juni 2009 beschlossen, in den verschiedenen Ländern der Diaspora Bischofskonferenzen einzurichten. Sie sollen die Einheit der Orthodoxie zum Ausdruck bringen und ihr die Möglichkeit geben, mit einer gemeinsamen Stimme zur Mehrheitsgesellschaft zu sprechen. In Deutschland ist dies die OBKD unter Vorsitz des Metropoliten von Deutschland und Exarchen von Zentraleuropa des Ökumenischen Patriarchats Augoustinos (Lambardakis). Bis heute existiert jedoch keine feste und dauerhafte kanonische Struktur in der Diaspora. Das Ökumenische Patriarchat hält grundsätzlich an seinem Anspruch auf die gesamte Diaspora fest, während die anderen Ortskirchen diesen Anspruch weiterhin nicht anerkennen.

[3] Übersetzung des Verfassers.

[4] Für eine Zusammenfassung und Diskussion der Statistiken siehe Thomas Bremer, Welche orthodoxe Kirche in der Ukraine ist die größte? / Which orthodox church in Ukraine is the largest? https://publicorthodoxy.org/2022/11/09/ukraine-largest-church

[7] Das Moskauer Patriarchat hat allerdings bis jetzt keine offizielle Stellungnahme zur Diaspora der UOK abgegeben, andererseits erkennt es die proklamierte Selbständigkeit dieser Kirche nicht an.

[8] „Diese Gemeinden haben keine Beziehung zur OBKD, da sie in der Auffassung des Moskauer Patriarchats nicht Metropolit Onufrij direkt unterstehen können und andererseits das Patriarchat von Konstantinopel nur die von ihm gegründete OKU als autokephal anerkennt“, Haller, a.a.O.

[9] Anmerkung der Redaktion: Am 12.–13. Oktober 2024 wurde in Köln im Rahmen einer „konstituierenden Generalversammlung“ eine neue Kirchenorganisation gegründet, die sich als „Ukrainisches Patriarchat in Deutschland und Europa“ bezeichnet, Filaret (Denisenko) als ihr Oberhaupt kommemoriert und sich als Rechtsnachfolger des 2019 liquidierten Kiewer Patriarchats versteht. Zum „bischöflichen“ Vorsteher dieser Struktur wurde Vladimir Čaika ernannt, ein ehemaliger Kleriker der ROKA in Deutschland, der im Jahr 2002 Zelebrationsverbot erhielt und später zu Filaret überlief. Die neue „Kirche“ besteht laut eigenen Angaben aus 4 Bischöfen in Europa. Am 19. Oktober 2024 erklärte die Synode des Kiewer Patriarchats unter Filaret (Denisenko), dass Čaika ein Schismatiker sei und laisierte ihn nun auch ihrerseits.

[10] Respektive können die Gemeinden dieser Kirchen unter https://rokmp.de/de/churches/ und https://rocor.de/de/gemeinden.html eingesehen werden.

[12] Orthodoxes Forum 36 (2022) 83 f.

[13] Dabei ist wichtig zu betonen, dass der Erlass Nr. 362 auf Entscheidungen des Landeskonzils von 1917-18 fußt, s. N. Artemoff Erzpr., Das Landeskonzil 1917-1918 als Grundlage und Quelle des Erlasses № 362 vom 7./20. November 1920 (russ.), in: Международная научная конференция «1917-й: Церковь и судьбы России», Мoskau 2008, S. 117-134. 

[14] Vgl. den Text des Erlasses bei Gernot Seide, Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, Wiesbaden 1983, S. 437-438.

[16] Vgl. KNA 2024 01-04, 38.

[17] Am Quinisextum selbst scheint eine ganze Reihe solcher Bischöfe teilgenommen zu haben. Vgl. Heinz Ohme, Concilium Quinisextum. Das Konzil Quinisextum. Übersetzt und eingeleitet von Heinz Ohme, Fontes Christiani. Zweisprachige Neuausgabe christlicher Quellentext aus Altertum und Mittelalter, Band 82, Turnhout 2006, S. 122.

[18] Übersetzung vom Verfasser.

[20] Damit ist bspw. die Einsetzung eines Gegenbischofs in Kherson durch das Moskauer Patriarchat unkanonisch, kritisch ist aber auch die Einsetzung bzw. Anerkennung Epiphanijs (Dumenko) als Oberhaupt der OKU mit Bischöfen als einer Gegenkirche durch das Ökumenische Patriarchat, da ja der jeweilige Bischof der UOK kanonisch geweiht und nicht etwa schismatisch ist, weshalb er über volle apostolische Sukzession verfügt; zudem wird vor Ort das Prinzip „eine Stadt – ein Bischof“ verletzt. Das Vorgehen beider Patriarchate in der Ukraine ist kanonisch zweifelhaft. Der Synod der ROK-MP gründet sein Vorgehen juristisch auf den Erlass 362. Hierdurch war (im Kontext des russischen Bürgerkriegs) die Möglichkeit solcher provisorischern Neustrukturierungen höchstinstanzlich eröffnet worden. Es werden somit eigentümliche Parallelen mit der bolschewistischen Verfolgung und dem russischen Bürgerkrieg gezogen (Information Orthodoxie 156 [02.01.2024] 13). Auch in der Diözese Berdjansk amtiert derzeit ein neu eingesetzter Bischof, nämlich Luka (Volčkov) als Vikar des Patriarchen, der bisherige Vorsteher der sibirischen Diözese Iskitim. Er erreichte Berdjansk Ende Mai 2023 und hat am 28. Mai seine erste Göttliche Liturgie in der Stadt zelebriert.  (Information Orthodoxie 140 [23. Mai 2023] 23f.; https://spzh.news/ru/zashhita-very/73878; https://pravoslavie.ru/153906.html). Weitere Präzedenzfälle wären möglich, denkt man an die Grenzverschiebungen im Rahmen des II. Weltkrieges oder anderer kriegerischer Auseinandersetzungen.

[21] Übersetzung des Verfassers.

[22] Pedalion, a.a.O., S. 253f.

[23] Der Titel des Erzbischofs von Zypern erinnert bis heute an diese historische Episode, die übrigens ca. 7 Jahre gedauert hat: Erzbischof von Nea Justinianopolis und Ganz Zypern. Vgl. Heinz Ohme, a.a.O., S. 126f. Vgl. das Statut der Kirche Zyperns https://churchofcyprus.org.cy/katastatikos_xartis_tis_ekklisias.

[24] Pedalion, a.a.O., S. 253f.

[25] Seide, Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland, S. 17. Vgl. A. Fastovskiy, Die kanonische Grundlage der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland und der pastorale Beitrag der Vertreter ihrer deutschen Diözese zum „Akt der kanonischen Gemeinschaft“ (1991-2002), Diss. 2023, S. 62-70.

[27] Die Orthodoxie kennt aber auch andere Formen des Lebens und Erlebens konziliarer Gemeinschaft abseits offizieller Bischofsversammlungen. Man denke an das Beispiel der OCA in den USA. Diese orthodoxe Kirche pflegt mit allen anderen in den USA vertretenen orthodoxen Lokalkirchen die liturgische Gemeinschaft und ist integraler Bestandteil des konziliaren Lebens dort, obgleich das Patriarchat von Konstantinopel ihren Autokephaliestatus nicht anerkennt.

[28] http://www.obkd.de. Dort findet man auch die Mitglieder und die Satzung der OBKD.

[29] Das Territorialprinzip ist jedoch selbst strittig. Im Kanon 34 der Apostel wird der Begriff »ἔθνος« zum einen als ein »Volk« bzw. eine »Nation« (die Serben, die Rumänen, ...) und zum anderen als eine »Provinz« bzw. ein abgegrenztes Territorium interpretiert. Um diese definitorische Fragestellung ist ein heftiger Streit zwischen zwei bekannten Kanonisten des 19. und 20. Jahrhunderts, Saguna und Radic, entbrannt. Radic verstand diesen Kanon dahingehend, dass »ἔθνος« nicht im Sinne von »gens« (Volk), sondern als »provincia« (eigene politische Verwaltungseinheit) angesehen werden müsse, da Christus der Kirche »einen kosmopolitischen Charakter verliehen hat, der jeden und auch den nationalen Popularismus ausschließt«. Saguna hingegen benutzte denselben Kanon für seine, laut Radic wörtliche, aber nicht sinngemäße Interpretation, und versteht »ἔθνος« als »Volk«. Radic verweist in seiner Kritik an der Definition Sagunas auf Kanon 9 des Konzils von Antiochien, wo »ἔθνος« eben im Sinne einer Verwaltungseinheit ausgelegt worden sei.

In Anlehnung an Saguna findet sich im neuen rumänischen Statut eine klare Interpretation des Begriffes »ἔθνος« als »Volk« im kanonischen Recht der Orthodoxen Kirche. Demzufolge betrachtet man das »Volk« bzw. die »Nation« als Kriterium der Abgrenzung und der Konkretisierung der Jurisdiktion einer autokephalen Kirche. Wie hieraus hervorgeht, bezieht die rumänisch-orthodoxe Kirche den Begriff ἔθνος weder auf eine Provinz noch auf die orthodoxen Christen innerhalb der Landesgrenzen Rumäniens, vielmehr auch auf die der »rumänischen Nation« angehörenden und außerhalb der Landesgrenzen lebenden Orthodoxen. Viele rumänische Autoren unterstreichen die Bedeutung der Orthodoxie für das rumänische Volk und die Verdienste der Kirche gegenüber dem Vaterland als patriotische Pflicht. S. ausführlich Organisations- und Funktionsstatut der Rumänischen Orthodoxen Kirche (2011) (Deutsch Rumänische Theologische Bibliothek (DRThB) Band 2), übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Anargyros Anapliotis, mit einem Geleitwort von Metropolit Serafim von Deutschland, Zentral- und Nordeuropa, Hermannstadt/Sibiu und München 2012, S. 21f.

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