Publikation, Einführung und Anmerkungen des Archivars der Deutschen Diözese der ROKA, Anatolij Kinstler
Stufe um Stufe
hebt der Blick sich
aus dem Tal empor
und sieht am Gipfelrand
des Tempels lichtes Rund.
Tyutchev F.I., 1830 [1]
In diesem Jahr 2024 wird das älteste im Archivbestand der Deutschen Diözese der ROKA aufgefundene Dokument 200 Jahre alt. Das Dokument ist auf den 12-ten November 1824 datiert und steht in Zusammenhang mit der Kirche der Heiligen Katharina auf dem Rotenberg (Stuttgart), deren 200-jähriges Jubiläum ebenfalls im Jahr 2024 begangen wird. Es ist ein Beispiel für einen persönlichen kaiserlichen Erlass aus der Synodalperiode der Geschichte der Russischen Orthodoxen Kirche. Der Erlass wurde vom St. Petersburger Geistlichen Konsistorium an Ioann Pewnizki [2], den Priester der Kirche am Grab der Königin Ekaterina Pawlowna von Württemberg in Rotenberg, ausgegeben. Während der Synodalperiode (1721-1917) wurde die Kirche von der Heiligen Synode geleitet und war dem Zaren unterstellt und erhielt von ihm Dekrete und Anordnungen zu kirchlichen Angelegenheiten: „Alle Beschlüsse der Heiligen Synode bis 1917 wurden unter dem Stempel „Im Auftrag Seiner Kaiserlichen Majestät“ erlassen” [3].
Diese Urkunde stammt aus der Regierungszeit Kaiser Alexanders I. (1801-1825) und ist der Ersetzung des alten Antimensions in der Kirche der Heiligen Katharina auf dem Rotenberg durch ein neues Antimension aus dem Geistlichen Konsistorium gewidmet. Bei dieser Urkunde bestand über die offizielle Formel auf dem Synodalstempel hinaus auch eine persönliche Verbindung zwischen Kaiser Alexander und der Kirche der Heiligen Katharina – die Kirche wurde als Grabstätte über dem Grab seiner Schwester, Ekaterina Pawlowna, der Königin von Württemberg, errichtet 1816-1819.
Ekaterina Pawlowna wurde 1788 in Zarskoje Selo geboren und war das sechste Kind in der Familie des Thronfolgers, des späteren Kaisers Paul I. und seiner Frau Maria Fjodorowna (Sofia Maria Dorothea Augusta Louise von Württemberg). Die Eltern benannten ihre Tochter zu Ehren ihrer Großmutter, der Kaiserin Katharina II. Ekaterina Pawlownas erste Ehe dauerte drei Jahre, bis ihr Ehemann, Generalgouverneur der Provinzen Twer, Jaroslawl und Nowgorod, Fürst Georg von Oldenburg (1784-1812), verstarb.
Ekaterina Pawlowna ging 1816 eine neue Ehe mit Kronprinz Wilhelm von Württemberg (1781-1864) ein. Am 30. Oktober 1816, nach dem Tod seines Vaters König Friedrich I., bestieg Prinz Wilhelm den württembergischen Thron. Bereits in ihrem königlichen Status engagierte sich Ekaterina Pawlowna aktiv in sozialen und wohltätigen Aktivitäten, gründete einen Wohltätigkeitsverein und richtete Häuser des Fleißes zur Armenhilfe ein, was nach dem Ende der zerstörerischen Napoleonischen Kriege besonders wichtig war. Sie förderte die Entwicklung von Kultur und Kunst in Württemberg. Bis heute sind einige von Ekaterina Pawlowna gegründete Vereine und Institutionen in Württemberg nach ihr benannt. Am 9. Januar 1819 starb Ekaterina Pawlowna unerwartet. Nach der Aussegnung wurde sie in der Grabstätte der Stuttgarter Stiftskirche beigesetzt. Am 17. Mai 1820 fand auf Befehl von König Wilhelm die Grundsteinlegung einer Kirche auf dem Berg Rotenberg statt – eines Grabmals für die verstorbene Ekaterina Pawlowna. Mit diesem Befehl „erfüllte der König den Wunsch seiner verstorbenen Frau, in ihrem geliebten Rotenberg beerdigt zu werden“ [4]. Die Kirche wurde vom italienischen Architekten Giovanni Salucci (1769-1845) in Form einer antiken Rotunde entworfen. Nach Abschluss der Bauarbeiten wurde die Kirche am 23. Mai 1824 von Priester Johannes Pewnizki geweiht und am 5. Juni 1824 wurde der Steinsarg von Ekaterina Pawlowna feierlich in das Familiengrab der Kirche überführt. Später wurden der Ehemann von Ekaterina Pawlowna, König Wilhelm I. (1864), und ihre Tochter Maria Frederika (1887) im Familiengrab dieser Kirche beigesetzt.
Im Zusammenhang mit dem Erlass über den Ersatz des Antimension könnte sich die Frage stellen: Warum befand sich das alte Antimension in der neu gebauten Kirche? Wie aus dem Text des Dekrets hervorgeht, gründet die Entscheidung, das Antimension zu ersetzen, auf dem Vorschlag des Priesters Ioann Pewnizki. Als nämlich Ekaterina Pawlowna aus Twer, wo ihr erster Mann Gouverneur von Twer war, nach ihrer Hochzeit mit Wilhelm von Württemberg zu ihm umzog, brachte sie ihre, dem Großmärtyrer Georg dem Siegesträger geweihte, Hauskirche mit. Nach dem Ableben von Ekaterina Pawlowna wurde dieser Hauskirche in ihre Grabkirche in Rotenberg verlegt. Wahrscheinlich war das aus Twer mitgebrachte Antimension inzwischen alt geworden, und Priester Ioann beschloss, einen Ersatz in Sankt-Petersburg zu beantragen, wie es in solchen Fällen üblich ist. Leiter des Geistlichen Konsistoriums von Sankt-Petersburg war in diesen Jahren Metropolit Serafim von Nowgorod, Sankt-Petersburg, Estland und Finnland (Glagolevsky, 1757-1843). Die Zustimmung zum Austausch des Antensions kam vermutlich von Metropolit Serafim.
Die Schreibweise und Zeichensetzung des Originalbriefes wurden bei der Veröffentlichung beibehalten.
№ 3452
Erlass Seiner Kaiserlichen Majestät des Selbstherrschers von ganz Russland, aus dem Sankt-Petersburger Geistlichen Konsistorium, an den sich in Rotenberg am Grab der in Gott ruhenden Königin von Württemberg Ekaterina Pawlowna, befindlichen Priester Ioann Pewnizki in Erfüllung der Resolution Seiner Eminenz, die auf Ihrem Antrag niedergelegt ist, übermittelt das Konsistorium anbei das Heilige Antimension zwecks Vollzug der Gottesdienste darauf in der neu erbauten der Heiligen Großmärtyrerin Katharina geweihten Kirche in Rotenberg, und schreibt Ihnen vor, das in jener Kirche befindliche alte Antimension sowie zehn Rubel für den mit dem neuen Antimension übermittelten Atlas[stoff] dem Konsistorium durch eine entsprechende Person zuzuleiten. Den 11. November des Jahres 1824. Spasosennovskij Erzpriester[5] Timofei Veshchezerov.[6]
Sekretär Michail Sokolowski.
Povytchik[7] Ivan Kolosov.
Anmerkungen
[1] Als Epigraph dient ein Auszug aus F.I. Tyutchevs Gedicht „Over the Grape Hills...“. Inspiriert wurde der Dichter von der Umgebung Rotenbergs und dem Blick auf die Grabkirche der Heiligen Katharina. Zitat aus [russ.]: Tyutchev F.I. Vollständige Werk- und Briefsammlung in sechs Bänden. M.: Verlagszentrum „Klassika“, 2002. Bd. 1. Gedichte, 1813-1849. S.143.
[2] Pewnizki Ioann Mikhailovich (1798-1863), Erzpriester, geistiger Schriftsteller, Lehrer der Sankt Petersburger Geistlichen Akademie. In den Jahren 1823–1852 diente Priester Ioann in der auf dem Rotenberg (Stuttgart) errichteten Grabkirche am Grab von Königin Ekaterina Pawlowna von Württemberg (1788–1819). Seit 1840 war Priester Ioann der Religionslehrer der Prinzessin, später der russischen Kaiserin, Ehefrau von Kaiser Alexander II., Maria Alexandrowna. Ab Januar 1852 diente er in der Hofkathedrale des Nicht von Menschenhand geschaffenen Bildes des Erlösers im Kaiserlichen Winterpalast in Sankt Petersburg.
[3] Tsypin Vladislav, Erzpriester. [russ.] Die Geschichte der Russisch-Orthodoxen Kirche: Synodale und neueste Zeit. Ed. Sretenski-Kloster. M., 2006. S. 24-25.
[4] [russ.] Russisch-Orthodoxe Kirche im Ausland: 1918–1968. Bd. 1–2 / Red. A. Sollogub. New York, 1968. Bd. 2. S. 956.
[5] Spasosennovskij Erzpriester ist der Priester der Erlöserkirche auf dem Sennaja-Platz in Sankt Petersburg. Diese Kirche ist Mariä Entschlafen geweiht und bekannt als Erlöserkirche auf dem Sennaja-Platz, nach dem Namen einer ihrer Nebenaltäre zu Ehren des Allbarmherzigen Erlösers. Erbaut 1753-1765. 1961 gesprengt. Derzeit wird daran gearbeitet, die Erlöserkirche auf dem Sennaya-Platz wieder aufzubauen.
[6] Veshchezerov Timofei Alekseevich (1771-1832), Erzpriester, ist 1812-1831 Vorsteher der Erlöserkirche auf dem Sennaja-Platz in Sankt Petersburg. Von Juli bis Dezember 1831 diente er in der Heiligen Nikolaus-Theophanie-Marine-Kathedrale von Sankt Petersburg. Seit Dezember 1831 Kathedrale Erzpriester an der Peter-und-Paul-Kathedrale in Sankt Petersburg. Lehrer an der Alexander-Newski-Akademie. Mitglied des Sankt Petersburger Geistlichen Konsistoriums. Er wurde auf dem Smolenski Friedhof in Sankt Petersburg beigesetzt.
[7] Povytchik – ein Beamter, eine Bürokraft. Abgeleitet von Nomen „povytie“ – als Bezeichnung einer Abteilung der Verwaltungsbehörden in Russland im 16.–17. Jahrhundert, die mit Büroarbeiten beschäftigt war.
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